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Kurzgeschichte
„Bobo der Bäumling

Am letzten Tag der Herbstferien schlenderte Till durch den Garten seiner Großeltern. Vorbei am kleinen Teich mit den Gartenzwergen, bis zum Rand des Grundstücks, welches von Bäumen umsäumt war.

Er hielt die Nase in die Sonne und betrachtete ausgiebig die alten Stämme.
Mit ihren tiefen Furchen und den faltigen Oberflächen erinnerten sie Till an ledrige Elefantenhaut.

Zu guter Letzt ließ er seinen Blick genüsslich an den Ästen entlang wandern.

Der Junge seufzte zufrieden, drehte sich um und ging Richtung Haus zurück.
Weit kam er aber nicht. Denn hinter ihm ertönte ein leises: „Hallo!“
Der Junge sah sich um, entdeckte aber niemanden.
„Hallooo!“ erklang es nun deutlich lauter.

Der Ruf kam aus der Richtung des Baumes, der am Rand des Grundstückes stand.
Die Blätter wackelten hysterisch in alle Himmelsrichtungen.

Till ging neugierig auf ihn zu.

„Ah, da bist du ja!“, sagte eine Stimme neben dem Baumstamm. Der Junge sah zu Boden und blickte auf eine Glatze. Ihm fiel vor Staunen die Kinnlade runter.
„Du solltest deinen Mund besser schnell wieder schließen, sonst werden die Milchzähne kalt!“, riet ihm das kleine putzige Wesen. Sein Aussehen erinnerte Till an einen Biber.

„Ich bin Bobo!“, stellte sich der Haarlose vor.

„Wieso hast du eine Glatze?“, fragte Till und strich vorsichtig mit dem Zeigefinger über die kahle Stelle.

„Ich kämpfte mit dem Rasenmäher deines Opas. Rate wer gewann?”, murmelte das Geschöpf und schaute bedröppelt zu Boden. „Seither wachsen sie nicht mehr. Ich friere fürchterlich am Kopf!“

„Das tut mir leid!“, sagte der Junge und setzte sich neben ihn.
„Wohnst du in dem Baum?“
„Ja! Ich bin ein Bäumling! Ich habe den Baum von meinem Großvater Bubu geerbt. Er verstarb leider vor ein paar Monaten im Schlaf.“

Der Junge sah ihn mitfühlend an: „Und was ist mit deinen Eltern?“
„Die wohnten zwei Häuser weiter die Straße runter. Aber seit dort eine neue Familie einzog, habe ich sie nicht mehr gesehen. Die Leute haben aus den wunderschönen Grünflächen und Bäumen einen Steingarten gemacht.“

Till streichelte behutsam Bobos kleine haarige Schulter: „Armer Bäumling. Womit verbringst du denn deinen Tag?“

„Ich unterhalte mich mit Holzwürmern!“, antwortete er, „Oder zumindest versuche ich es. Sie diskutieren ständig darüber, welcher Holzjahrgang der beste wäre und wer von ihnen sich wie tief doch schon durch sämtliche Jahresringe geschlemmt hätte.

Die Gespräche sind daher oft sehr langweilig für mich. Und wenn sie meinen Baum erst probiert haben, ziehen sie weiter und die nächsten kommen. Dabei muss ich ständig aufpassen, dass sie nicht zu viel futtern – nicht, dass sie mir noch die Bettpfosten unterm Hintern wegfressen. Ich wohne schließlich hier!“

Die Aufregung schien Bobo viel Kraft zu kosten, denn sein Magen begann lautstark zu knurren. Till zog daraufhin einen leicht zerbröselten Keks aus seiner Hosentasche. Er schenkte Bobo ein paar Krümel davon. Kaum hatte der Kleine diese verputzt, beruhigte er sich auch schon wieder.

„Warst du es auch, der die Blätter zum wackeln brachte?“, fragte Till.

„Ja!“, Bobo schob mit dem Fuß einen Kiesel hin und her, „Wenn jemand im Garten ist, renne ich wie der Blitz den Baum rauf und runter. In der Hoffnung, jemand sieht die Blätter wackeln. Ich bin recht klein, daher muss ich ja irgendwie auf mich aufmerksam machen! Im Herbst klappt das gut, da die Blätter locker an den Ästen hängen. Wiederum am einsamsten bin ich in den Wintermonaten. Da können die Tage sehr lang werden!“

„Bin ich der erste Mensch, der dich bemerkt?“, fragte Till weiter.
„Nein. Zwar drehen sich Erwachsene kopfschüttelnd um, wenn sie meinen lebhaften Baum entdecken – ihnen kommt aber gar nicht erst der Gedanke, dass es mich geben könnte. Kinder hingegen, wie erst kürzlich der Nachbarsjunge, kommen zu mir. Wir freunden uns an und sie versprechen, wiederzukommen“, sagte Bobo und kickte den Kiesel weg.

„Lass mich raten“, sagte Till, „sie kommen nicht zurück, oder?“
„Leider nein!“, murmelte das kleine Wesen und strich sich versonnen über die Glatze. „Kinder werden so schnell groß! Ehe sie sich versehen, verlieren sie den Glauben an mich. Sie sind dann überzeugt, ich wäre nur ein Gespinst ihrer Fantasie gewesen.“

„Ich vergesse dich bestimmt nicht! Du wirst sehen. Versprochen!“, sagte Till mit kraftvoller Stimme, so dass Bobo zusammenzuckte.
„Versprich nichts, was du nicht halten kannst, mein Junge!“, gab Bobo zu bedenken.

Eine Stimme donnerte durch den Garten. „Till, deine Eltern sind da, um dich abzuholen. Kommst du?“, bölkte seine Oma aus der Tür.
Der Junge strich Bobo sanft über den Rücken: „Ich komme dich in den Winterferien wieder besuchen! Ganz bestimmt!“ verabschiedete er sich und rannte zum Haus.

Der Winter kam und zeigte sich dieses Jahr von seiner harten Seite. Der Gartenteich fror zu und die Bäume erinnerten an weiße Riesen aus fernen Welten.

Bobo blickte traurig durch sein Lieblingsastloch. Nach draußen traute er sich nicht. Der Bäumling befürchtete, seine Glatze würde einfrieren.

Einsam schaute er ins endlose Weiß hinab. Nichts und niemand zu sehen. Sogar die Holzwürmer zogen es vor, im Süden zu überwintern und hatten bereits vor Wochen ihre Koffer gepackt.

Bobo begann bitterlich zu weinen. Die Tränen tropften zu Boden und kullerten wie winzige Perlen über den Schnee.

Plötzlich klopfte es am Baum.

Bobo machte große Augen. Er rannte wie von der Tarantel gestochen den Baum hinab. Mit den Vorderpfoten bedeckte er schützend seinen kahlen Kopf, während er sich mit den hinteren hektisch einen Weg durch die weiße Decke grub.

Kurz darauf stieß er auf eine kleine Schachtel, welche hübsch verpackt war. Aufgeregt riss er das Papier ab und öffnete sie:

Es lag eine rote Mütze darin.

Schnell zog er sie über sein Köpfchen.
„Die passt wie angegossen!“, strahlte er und ihm wurde wohlig warm. Bobo konnte sein Glück kaum fassen.

Im nächsten Moment hörte er knirschende Schritte auf der Schneedecke hinter sich.
Der Bäumling sah hoch: „Du bist zurück!“, sagte er und schaute in das vertraute Gesicht von Till.
„Das habe ich dir doch versprochen mein kleiner Freund!“, sagte der Junge und lächelte.

Bobos Herz machte unzählige Purzelbäume vor Freude.
Das erste Mal in seinem Leben spürte er, wie sich wahre Freundschaft anfühlte.