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Kurzgeschichte
„Der Ausflug

Heidi wälzte sich hin und her. Sie konnte nicht schlafen. Zu groß war ihre Sorge, da seit Wochen ein Furunkel mitten auf ihrer Stirn wuchs. Es hatte inzwischen die Größe eines Geldstückes und erweckte nicht den Anschein, wieder verschwinden zu wollen.

Es Klopfte.

Heidi erschrak und fuhr hoch. „Herein?“, rief sie ins dunkle Zimmer. 

Nichts geschah. 

Sie kratzte sich nachdenklich an der Stirn. Das Furunkel juckte inzwischen wie eine Armee Ameisen, die sich zur Einsatzbesprechung auf ihrem Gesicht verabredet hatten. 

Plötzlich ertönte ein fürchterliches Quietschen. Wie eine Tür, die sich über Jahrzehnte weigerte, eine Freundschaft mit einer Ölflasche einzugehen.

Heidi schmiss kurzer Hand die Bettdecke beiseite und rannte ins Bad. Sie griff nach dem Lichtschalter.
„Nabend!“, ertönte eine tiefe Stimme. Sie knipste hektisch das Licht an und sah sich um.

Niemand zu sehen. 

Sie schaute in den Spiegel und erschrak. Ihr Furunkel war wie ein Türchen zur Seite aufgeklappt.
Zwei kohlrabenschwarze Knopfaugen sahen sie daraus an. Das Mädchen nahm all seinen Mut zusammen und formte mit den Händen eine Kuhle. Sie hielt sie an ihre Stirn. Ein winziges Bein mit lila Krallen streckte sich der Länge nach aus der Furunkel Tür. Es folgte ein Körper mit bunten Federn.  

„Darf ich mich vorstellen?“, fragte der Fremde, „Ich bin Viktor!“

„Du bist ein Vogel!“, brachte es Heidi ohne Umschweife auf den Punkt.

Währenddessen hüpfte Viktor vergnügt pfeifend in ihre Hände. „Überrascht dich das?“, fragte er und schüttelte dabei sein imposantes Federkleid.

„Naja“, begann die Kleine einen Erklärungsversuch, „ich wusste zwar, dass viel Chaos in meinem Kopf herrscht, aber mit dir habe ich nun wirklich nicht gerechnet.“

Der Vogel flog auf ihren Kopf und vergrub behutsam seine Krallen in ihrem blonden Haar. „Ich mache dir einen Vorschlag: Nimm dir einen Moment Zeit, um dich zu beruhigen. Ich mache solange einen Ausflug.“

Heidi dachte einen Moment lang nach und öffnete geistesgegenwärtig das Fenster.
„Wo willst du denn hin?“, fragte sie vorsichtig. Viktor sprang auf den Fenstersims: „Ich habe Hunger! Und verstehe das nicht falsch, aber ich möchte mal etwas anderes als deine Gedanken verputzen.“

„Meine Gedanken?“, Heidis Stimme überschlug sich. „Ja, aber mach dir keine Sorgen“, besänftigte er sie, „ich habe nur die Unwichtigen genommen.“

„Bin ich deshalb so vergesslich?“, fragte Heidi und sah ihn forsch an.
Eine Antwort bekam sie nicht, stattdessen drehte Viktor sich lachend um und flog aus dem Fenster.

Heidi stürmte ins Wohnzimmer. 

„Großvater, Großvater, ich habe einen Vogel!“, rief sie aufgeregt.
Der alte Mann stand vom Kamin auf und ging auf sie zu. Lächelnd schloss er mit seinem faltigen Daumen das Türchen auf ihrer Stirn.
„Gut, dass es kein Geheimnis mehr ist, Heidi. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er groß genug ist, um sich zu zeigen.“

Heidi ließ sich auf einen Hocker plumpsen.

„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“, fragte er genüsslich und sah über seine Brillengläser hinweg. Seine Enkelin nickte hektisch. „Deine Eltern hatten auch einen.“

Sie rutschte mit dem Hocker näher an ihren Großvater. „Wirklich? Das wusste ich nicht.“
„Das liegt daran, dass sie sich gegenseitig einen Käfig drumherum gebaut hatten.“

„Und warum zeigt sich meiner?“, fragte sie und rutschte auf der kleinen Holzfläche hin und her.

„Entweder haben deine Eltern vergessen, ihm einen Käfig zu bauen, oder sie haben ihn bewusst weggelassen.“

„Und was mache ich jetzt?“
„Am besten gibst du dem Vogel eine Bühne.“
„Lieber nicht. Die anderen Kinder lachen mich eh schon aus, da ich dieses Furunkel habe.“ 

„Er muss ja nicht ständig auftreten“, besänftige er sie, „nur ab und zu.“
„Und wie stellen wir das an?“

Der Großvater ging zu einer alten Kommode. Mit Händen, so groß wie Pranken, kramte er tief in der untersten Schublade.

Es klapperte und schrappte. 

Kurz darauf zog er eine mittelalterlich aussehende Maschine daraus hervor.

„Was hast du damit vor?“, fragte das Mädchen und presste ihre Lider zusammen. Sie befürchtete, dass sonst ihre Augen aus dem Kopf kullern würden.
„Mein Kind, du brauchst ein Pony!“, antwortete er knapp und setzte sich neben sie.

„Ich mag Pferde nicht!“, schoss es aus ihr heraus und ihre Mundwinkel gaben sich der Schwerkraft hin.

„Ich meine deine Haare, Heidi.“ Er rieb sich die Hände und schaltete das Gerät ein. „Das ist eine Schermaschine“, begann er zu erklären und machte der Lautstärke des Motorengeräusches Konkurrenz, „damit schere ich die Schafe seit Jahrzehnten.“

„Ja, so sehen sie auch aus!“, murmelte die Kleine und schob sich samt Stuhl einen großen Satz Richtung Wand.

Doch ehe sie sich versah, brummte auch schon die klapprige Maschine an ihrer Stirn entlang.

Es surrte und zwickte.

Eine Handvoll Haare rieselte zu Boden und der alte Mann betrachtete zufrieden sein Tagewerk.
„Wenn der Vogel nun einen Ausflug machen möchte, braucht er nur den Vorhang beiseite zu schieben.“

„Super!“, sagte Heidi erleichtert, „somit sieht niemand auf den ersten Blick, dass er zu mir gehört.“

Die kleine hüpfte vergnügt vom Hocker und machte es sich mit ihrem Großvater im Ohrenbackensessel vor dem Kamin gemütlich. 

„Du?“, fragte Heidi auf ihrer Unterlippe kauend und zwirbelte dabei die Bartspitze ihres Opas zwischen den Fingern, „hast du auch einen Vogel?“ Konzentriert sah sie sich seine wie Pergamentpapier aussehende Stirn an; konnte aber beim besten Willen keine Spuren eines Furunkel Türchens oder ähnlichem entdecken. 

„Die Verrücktheit sucht sich die unterschiedlichsten Wege“, schmunzelte er und neigte den Kopf zur Seite. Beherzt griff er sein dickes Ohrläppchen und zog einmal kräftig daran. Ein Glöckchen erklang, gefolgt von einem Knarren.

Ein grauer Vogel streckte sein Köpfchen aus dem großen Ohr und sah den alten Mann schelmisch an: „Sie haben geläutet?“ Dann drehte er sein Köpfchen und entdeckte Heidi: „Oh, wir haben Besuch!“, plapperte der gefiederte Untermieter drauf los. „Wie ich hörte, hast du auch einen Vogel“, flötete der Kleine erfreut, „Kann er morgen zum Spielen rauskommen?“

„Ja, ich denke schon“, entgegnete Heidi amüsiert.
Der Vogel nickte zufrieden und verschwand wieder im Kopf des alten Mannes.
„Tschüss, bis morgen“, flüsterte die Kleine ihm hinterher, bevor das Türchen wieder ins Schloss fiel.

Heidi und ihr Großvater lachten aus vollem Halse.

Die Kleine hüpfte anschließend von seinen Knien und der alte Mann sah sie mit großen Augen an.
„Mein Kind“, sagte er und beugte sich zu ihr runter. Er hielt Heidis Hände fest an sein Herz, „einen guten Rat gebe ich dir mit auf den Weg.“
Seine Augen funkelten im Licht des Kaminfeuers.
„Freunde dich schnell mit deinem Vogel an.
Denn er bleibt für immer.“