Banner_Der_Baumwoll_Ritter

Kurzgeschichte
„Der Baumwoll Ritter

Robert schlenderte gedankenversunken über das ‘Faustfest’ im Märchenwald. Alte bucklige Hexen verkauften geschäftig Äpfel an junge zögernde Damen und ein Frosch drehte jeden noch so kleinen Stein um, auf der Suche nach seiner Krone.

Der junge Mann gesellte sich zu ein paar Geißlein auf den saftigen Waldboden. Er nahm behutsam seinen Rucksack ab und hielt ihn fest im Arm. Aufmerksam beobachtete er das Treiben um sich herum. 

Plötzlich rannte ein Zwerg – wie von der Tarantel gestochen – durch die Menge. Schnurstracks auf Robert zu. Beherzt schmiss der Kleine seinem verdutzten Gegenüber eine Hand voll Konfetti an den Kopf. Mit knubbeligen Fingern rollte er ein vergilbtes Stück Papier auseinander. „Sie Pilz des Glückes!“, begann er zu verkünden, ,,Ich habe die Ehre Ihnen mitzuteilen, dass Sie den Tombola Überraschungspreis gewonnen haben. Sie haben die Ehre, an der großen Schlacht zu ‘Ich hau dich weg’ teilzunehmen!“

Robert schluckte. 

Eine Schweißperle rann über seine Stirn. Er wischte sie unbemerkt weg, aber seine dünnen Beine zitterten wie Espenlaub. 

Der Zwerg las weiter: „Da Sie dem Volke der Kriegoner entstammen, stehen Sie natürlich nicht in sicherer zweiter Reihe, sondern mit an vorderster Front! Drum polieren Sie Ihre schönste Ritterrüstung und kämpfen Sie Seite an Seite mit Ihren Landsmännern!
Die Trompeten werden zum Start ertönen.“

Alle Anwesenden applaudierten vor Begeisterung über das anstehende Spektakel. Robert hingegen wurde flau in der Magengegend. Denn was keiner wusste: Er konnte nicht kämpfen. Und eine Rüstung besaß er schon gar nicht. Wegrennen war aber keine Option. Denn was seine Landsleute auf den Tod nicht leiden konnten, waren Feiglinge.

Jedem Kriegoner wurde innerhalb der Familie von Kindesbeinen an das Kämpfen gelehrt. Robert lernte seinen Vater aber nie kennen und seine Mutter verließ das Land, als Robert noch klein war. Seine Oma zog ihn auf. Und das einzige womit sie kämpfte, waren die Brotkrümel zwischen ihren Zähnen.

Während die anderen Faustfest-Besucher ‘Hau den Lukas’ spielten, suchte sich Robert ein stilles Plätzchen. Er zog einen Karton aus dem Rucksack. Diese kleinen vier Wände aus alter Pappe waren das Einzige, was seine Mutter ihm damals hinterließ.

Auf dem Deckel stand ‘Bei Gefahr öffnen!’ Bisher hatte Robert in seinem Leben keine Situation für brenzlig genug gehalten, um dieser Aufforderung in Würde nachzukommen.

Bis heute.

Langsam hob er den Deckel an und schaute hinein. Doch er fand weder eine Waffe, noch ein Schutzschild oder ähnliches.

Sondern einen Pullover.

Mit spitzen Fingern griff er das große Stück Stoff und hielt es vor die Mittagssonne. Bedröppelt schaute er durch faust-große Maschen. Offensichtlich hatte seine Mutter ihn selbstgestrickt. Oder es war nicht sein erster Kampf. 

Robert dachte nach. 

Ihm fiel beim besten Willen nicht ein, wie ein Pullover Schutz im Kampf bieten sollte. Oder würden ihn die anderen aus Mitleid gar nicht erst angreifen?

Die Trompeten erklangen.

Die Kriegoner versammelten sich auf einer großen Lichtung, im Herzen des Faustfestes. Robert seufzte, zog im Anflug eines Urvertrauens den Pullover seiner Mutter über und stellte sich zügig zu den anderen in erster Reihe auf – schließlich war ja auch er ein Kriegoner, kein Feigling. 

Um ihn herum glänzten die Rüstungen im Sonnenlicht und klapperten um die Wette.

Die Kampfeslustigen waren so auf ihr feindliches Gegenüber fokussiert, dass sie Robert gar nicht bemerkten. Bis auf den Kriegoner neben ihm. „Junge, wir sind hier nicht bei den Strickweltmeisterschaften!“, grinste er und blickte auf den Baumwollträger herab. „Und so unter uns”, fuhr er fort, „selbst dort hättest du schlechte Chancen!“

Robert machte einen langen Hals. „Zumindest besteht er aus verschiedenen Grüntönen“, versuchte er sein Gesicht zu wahren, „Somit kann ich mich gut tarnen! Wirst sehen! Oder auch nicht. Du hingegen klapperst schon von weitem wie zehn Milchkannen!“ 

Der Ritter überhörte seine Worte und rannte zum Klang der Trompeten los. Die anderen taten es ihm gleich. 

Robert nahm seinen Mut zusammen, hielt sich schützend die Arme über den Kopf und lief querfeldein. 

Im Slalom rannte er um die bölkenden Kriegoner herum, die ihre Schwerter schwangen, als gäbe es kein Morgen. Fast hatte er den Rand der Schlacht erreicht, da stellte sich ein eiserner Hüne von einem Krieger ihm in den Weg. Flink rutschte Robert unter den gespreizten Beinen seines Gegners hindurch und sprang kopfüber ins Dickicht des Märchenwaldes.

Er atmete tief durch. 

Plötzlich begann sein Pullover zu rascheln. Erst kaum hörbar, dann immer lauter. Robert suchte nach der Ursache. 

Jede Masche ließ er dabei penibel prüfend durch die Finger gleiten. Schließlich entdeckte er den geräuschvollen Ursprung. 

Es war der Waschzettel. 

Robert schaute sich das unscheinbare Stück Papier genauer an. ‘Auf links drehen!’ stand dort geschrieben. Was sollte das bedeuten? Seine Feinde ‘auf links’ drehen? Ihnen das Fell über die Ohren ziehen? Oder war gar der Pullover selbst gemeint?

Äste knackten. In Windeseile zog Robert das Baumwoll-Komplott verkehrt herum an und entdeckte, wie sich lange Stofffäden an ihm herab entrollten.

Vorsichtig lugte er aus dem Versteck. Niemand zu sehen. Er kletterte behutsam heraus und nahm die Beine in die Hand. Weit kam Robert aber nicht, denn seine Füße verhedderten sich in den Fäden. Noch ehe er sich versah, stürzte er zu Boden.

„Jetzt hab ich dich!“, donnerte eine bedrohliche Stimme über ihm. Es war der eiserne Hüne. „Steh gefälligst auf, wenn ich mit dir rede, wie es sich für einen Kriegoner gehört!“ Robert gehorchte und brachte sein Durcheinander wieder auf zwei Beine.

Grob packte der Ritter ihn an der Schulter. Dabei verhedderte sich seine Hand in einem der Pulloverfäden. Irritiert versuchte der Ritter los zu kommen und gab Robert in dem Versuch einen so starken Ruck, dass dieser wieder das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte. Der durch die Finger des Ritters rutschende Faden klang dabei wie eine startende Kettensäge.

Beide erschraken gleichermaßen und plötzlich waren sie von weiteren Kriegonern umringt. Das Geräusch hatte die Wagemutigen über den Schlachtenlärm hinweg angezogen.

„Jetzt schnappen wir dich Freundchen!“, riefen sie bitter erbost, „Dein letztes Handarbeits-Stündchen hat geschlagen!“
Robert sah sein kleines unbedeutendes Leben im Geiste vorbeihuschen, als plötzlich die Fäden des Pullovers immer länger wurden.

Sie schlängelten sich durch den Rasen. Auf gewisse Weise elegant, aber auch beängstigend.
Robert traute seinen Augen nicht.
Wie eine Python um ihre Beute, krochen die Fäden an den Waden der Feinde hoch. 

Den verdutzten Rittern dämmerte es langsam, aber da zogen sich die Wollschlangen schon stramm. Einer nach dem anderen plumpsten sie in ihren schweren Rüstungen zu Boden. Mit in der Luft fuchtelnden Händen und Füßen erinnerten sie an hilflose Käfer, die auf ihren Rücken gefallen waren.

Die Kriegoner waren außer Gefecht gesetzt. 

„Gott bewahre!“, ächzte einer der Gefallenen, bekreuzigte sich und zeigte zitternd auf Roberts Pullover, „Ist das etwa der magische Pullover der berühmt berüchtigten ‘Baumwoll Beate’?“

„Was sagst du da?“, entfuhr es Robert, „Meine Mutter hieß Beate!“

„Unsere Eltern erzählten uns von ihr“, sprach ein anderer ehrfürchtig, „Wir dachten, sie wäre ein Mythos! Sie hatte damals versucht, dem ständigen Kampf der Kriegoner ein Ende zu setzen. Unsere Eltern vertrieben sie aus dem Land.“

Nach und nach schafften es die Kriegoner sich aufzurichten, sodass sie nun im Kreis um Robert saßen.

Diesem liefen bittere Tränen über die Wangen. Sie tropften auf den Pullover und versiegten dort sogleich. Der junge Mann wollte fliehen. Im nächsten Erdloch verschwinden. 

Doch dazu kam es nicht. 

Der Pullover schmiegte sich enger und enger um seinen hageren Oberkörper. Robert hatte aber keine Angst, denn es fühlte sich wie eine starke warme Umarmung an. Einer der Fäden kletterte sogar zart an seiner Wange entlang und sog die restliche Traurigkeit auf. 

Die Magie seines Baumwoll-Erbes schien stärker zu werden. 

Die Fäden wurden dicker und versammelten sich in Roberts Händen zu einem Knäuel. Die Wolle kroch um seine Fingerspitzen. Als er aufblickte und die erstaunten Blicke der Kriegoner sah, folgte er einem Impuls: er warf dem nächsten Ritter das Knäuel zu. „Das fühlt sich vertraut an“, rief dieser und drückte die weiche Wolle genussvoll an seine Wange. „Ich mag Stricken!“, flüsterte er und begann seine Rüstung zaghaft abzustreifen, „aber meine Eltern haben es mir verboten!“ Er seufzte und warf den Stoffball zu seinem Nebenmann. Auch dessen Gesichtszüge entspannten sich zusehends und er schwelgte in Erinnerungen. Auch seine Rüstung ließ er zu Boden fallen.

Ein Kriegoner nach dem anderen befreite sich von der alten Last.

Die Stofffesseln entließen die Beine der eigentlich so kämpferischen Männer und zogen sich in den Pullover zurück.

Robert kaute auf der Unterlippe und betrachtete sein kleines Publikum. Wie würden sie die wiedergewonnene Freiheit nutzen? Ihres friedvollen Weges gehen oder aus Gewohnheit ihn doch an den Pranger stellen?

Er schloss betend die Augen. 

In der Stille hätte man eine Stricknadel fallen hören können.

Eine sanfte Berührung auf seinem vor Angst gekrümmten Rücken ließ ihn hochschauen.

Die Ritter waren einer nach dem anderen aufgestanden und hielten sich an den Händen.

Sie lächelten ihrem Baumwoll Ritter zu.

„Bringst du es uns wieder bei, das Stricken? Unsere derben Pranken haben nämlich lange Zeit nichts Gutes mehr eingefädelt.“

Robert atmete auf: „Ich wüsste nicht, was ich lieber täte!“