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Kurzgeschichte
„Der Elfenbein-Schmuggler“

Die Dämmerung brach herein. Manfred stapfte mit großen Schritten in den Wald. Angst hatte er keine. Er war ein mutiger Troll. Wenn überhaupt, sollten andere Angst vor ihm haben.

Die Realität sah anders aus.
Er hatte Glubschaugen.

Als Jungtroll hatte er einen Elfenbein-Schmuggel beobachtet. Der Anblick löste pure Faszination in ihm aus. Er riss die Augen so weit auf, dass seine Lider einrasteten.
Der staunende Blick blieb. Genau wie sein Wunsch, Schmuggler zu werden.

Mitten im Wald, an einer großen Eiche mit überwucherten Wurzeln, blieb Manfred stehen. Er zog eine Sandale aus und tastete vorsichtig mit nacktem Zeh über das kalte Moos. Unter einer besonders flauschigen Stelle des grünen Teppichs, spürte er den kleinen Knauf einer Tür im Boden.
Anklopfen kam nicht in Frage. Ein Schmuggler wie er nimmt sich, was er will, und fragt nicht um Erlaubnis. Der Troll zupfte mit dicken Fingern das Moos ab und stellte sich auf die Tür.
Es rumste.
Er war eingebrochen.

Trotz des Lärms, den er verursachte, blieb er vorerst unbemerkt. Auf knubbeligen Zehenspitzen durchsuchte der Troll die dunkle Wohnung. Das Augenlicht seiner Glubscher reichte völlig, ihn sicher von einem in den nächsten Raum zu führen.

Nach einiger Zeit des Erkundens blieb Manfred vor einem Bett stehen. Er zog die Decke am Fußende beiseite und da lag es. Direkt vor ihm. Zum Greifen nah:
Das Elfenbein.

Es war zum Niederknien schön und zugleich einschüchternd prachtvoll. Manfred zog an ihm.

„Hey du Flegel, was machst du da?“, ertönte eine hohe erboste Stimme. Der Troll dachte kurz über die Wahrscheinlichkeit sprechender Beine nach, bevor sein Blick weiter am Bett entlang wanderte. Am obersten Ende lugte ein niedliches Gesicht aus der Decke.

„Ist das dein Bein?“, fragte Manfred irritiert.
„Ja, was glaubst du denn?“, schimpfte die zarte Stimme,
„Denkst du, die liegen hier lose rum?“
„Ehrlich gesagt… ja.“
Manfred kratzte sich am Kopf.
„Bisher sah ich sie nur einzeln. Es kam mir nicht in den Sinn, dass sie vorher zu jemandem gehörten.“

Das Wesen schlüpfte mit einer eleganten Bewegung unter der Decke hervor. Hinter seinem Rücken entfalteten sich zwei glänzende Flügel.
„Ich bin die Elfe Stefanie!“, stellte sie sich mit einem Knicks vor, trotz aller Entrüstung über den Einbruch.
Manfred hielt sich die Augen zu, das strahlende Weiß ihrer Beine erhellte den ganzen Raum.

„Komm nicht auf falsche Gedanken, Freundchen!“, protestierte sie und klopfte mit der winzigen Faust gegen seinen klotzigen Schädel.

„Die Beine bleiben dran! Ich weiß sehr wohl, wie wertvoll sie sind. Als Tänzerin an der Elfen-Oper habe ich sie perfekt trainiert!“

Manfred wirkte zwar nach außen robust, aber im Inneren war er sensibel. Das Geschimpfe ging nicht spurlos an ihm vorbei. Seine Augen füllten sich langsam mit Wasser. Die Elfe bemerkte den Stimmungswandel und befürchtete, wo das enden könnte. Die Tränen würden ihre Wohnung fluten.
Das musste sie verhindern und suchte weiter das Gespräch:
„Was passiert denn, wenn du ohne Elfenbein zu deiner Schmuggler-Bande zurückkehrst?“

„Sie hängen mich kopfüber an meinen Sandalen auf!“ Eine große Träne platschte aufs Bett. Steffi zuckte zusammen und flog rasch ins Wohnzimmer. Mit einer großen Truhe kam sie zurück. Gemeinsam schauten sie hinein.

„Das sind die Beine meines Vaters!“, sagte sie stolz, griff ein paar und hielt sie wedelnd in die Luft.

„Die sind ja strahlend weiß!“, staunte der Troll und schnalzte mit der Zunge.
„Braucht dein Vater sie denn nicht mehr?“

Stefanie seufzte und sah bedröppelt zu Boden:
„Mein Vater war Kapitän der Elfen-Piraten. Er war so kampfeslustig, dass er früh beide verlor. Daher besitzen wir jede Menge Ersatz.“

Die Elfe drückte Manfred eins in die Hand: „Hier, nimm ruhig! Du bist zwar tölpelhaft, aber dass sie dich an deinen Sandalen aufhängen, das muss wirklich nicht sein!“

„Donnerwetter!“, wertschätzte der Troll und wischte mit seinem Unterarm die Tränen weg.

Steffi musste unweigerlich lachen. „Ach komm was soll’s! Auf einem Bein kann man ja bekanntlich nicht stehen!“, sagte sie und überreichte Manfred ein weiteres.

„Wir Trolle haben zwar kleine Herzen, aber es ist deshalb nicht weniger mit Dank erfüllt. Ich nehme die Beine in die Hand und verabschiede mich!“ Er verbeugte sich und tapste aufgeregt davon.

„Hey, warte! Hast du nicht etwas vergessen?“, rief Steffi ihm nach.
Verdutzt schaute er in seine leeren Hände und trottete verlegen zurück.

Mit ihren schlanken Fingern schnippte sie an seine Stirn:
„Was man nicht im Kopf hat,
hat man in den Beinen!“