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Kurzgeschichte
„Der Haargott Harald

„Ich bin ein Haargott, verneige dich vor mir!“ befahl Harald von Bürstenix und warf Ingrid einen strengen Blick zu.
„Und ich eine Trockenhaube“, entgegnete sie, „Ich kann mich nicht krummmachen. Außerdem“, fuhr sie fort, „bist du nur ein ‘selbsternannter’ Gott.“ 

Harald warf theatralisch seine goldene Lockenpracht von links nach rechts. Seine viel zu groß geratene Nase schob sich dabei durch den haarigen Vorhang: „Bisher hat niemand ein Machtwort gegen mein göttliches Dasein gesprochen.“

Ingrid schmunzelte: „Du herrscht über die Perücken im Fachgeschäft nebenan. Wer soll dir da widersprechen? Perücken sind nicht gerade dafür bekannt, ein Eigenleben zu führen. Außer der Wind weht unter ihren Pony.“

„Jetzt werd’ mal nicht frech, junges Fräulein“, schimpfte er, „sonst ziehe ich deinen Stecker! Dann hat es sich ausgetrocknet.“

„Du brauchst mich!“, zischte Ingrid, „Schon vergessen?“

Harald massierte sich die Schläfen: „Mit deinen Widerworten frisst du mir noch die Haare vom Kopf!“

„Sei still!“, flüsterte sie plötzlich, „Kundschaft kommt.“

Der Haargott verschwand fix unter dem Frisörstuhl.

Eine alte Dame steckte kurz darauf erzählfreudig ihren Schopf unter die Haube. Auf ihrem Kopf thronten stramm eingerollte Lockenwickler. Ingrid holte tief Luft und pustete, was das Zeug hielt.

Der Gesichtsausdruck der Kundin wurde immer leerer, während die Wickler zu leuchten begannen.
Einer nach dem anderen. Dampf stieg auf. Die Kopfhaut brutzelte. Zu guter Letzt ertönte ein ‘Ping’.

Die Dame tauchte mucksmäuschenstill unter der Haube hervor. Nachdem sie zu Ende frisiert war, nahm das eigentliche Drama seinen Lauf. Anstatt ihrer Jacke an, zog sie ihren Pulli aus. Luftig bekleidet im Unterhemd schwankte sie zum Ausgang, verfehlte ihn haarscharf, so dass sie kräftig gegen die Schaufensterscheibe donnerte.

Armselig rutschte sie in Zeitlupe an ihr herab. Währenddessen flogen ihre falschen Wimpern davon und verpassten der freundlich schauenden Frau auf dem Werbeplakat einen Schnurrbart.

Harald lugte unbeeindruckt des Schauspiels unter dem Sitz hervor, um seine neue Lieferung in Empfang zu nehmen. Er sprang auf den Ablagetisch. „Die Lockenwickler sind ja noch warm!“, schwärmte der kleine Gott und drehte sich einen rein. „Gute Arbeit Ingrid. Weiter so!“

Er verduftete wieder.

Der Trockenhaube war mulmig zu Mute. Sie hoffte auf den baldigen Feierabend. Aber daraus wurde nichts, denn die nächste Dame griff beherzt nach ihr und stülpte sie energisch über die eingedrehten Haarsträhnen. Ingrid sprang an und das skurrile Prozedere nahm erneut seinen Lauf. 

Die Kundin legte anschließend drei Kekse auf den Tresen. Mit den Worten ‘Stimmt so!’ verließ sie schielend das Geschäft.

„Harald, das muss aufhören!“, schimpfte Ingrid, während dieser zum Vorschein kam. „Die alten Damen verlassen strohdoof den Salon. Es ist nur eine Frage der Zeit bis auffällt, dass es sich nicht um Zufälle handelt.“

„Hab dich nicht so!“, sagte er trocken und packte unbeirrt die neue Wickler-Beute in seine Tasche. Entzückt ließ er seinen göttlichen Zinken darüber kreisen. 

„Riechst du das? Ein Königreich voller Erinnerungen“, flötete er beeindruckt und sah Ingrid deutlich ihr schlechtes Gewissen an. „Ingrid, ich habe da mal eine Frage: Warum darf ich ihnen die Erinnerungen nicht entziehen?“, startete Harald einen Erklärungsversuch, „Die alten Frauen betrachten doch eh bald die Radieschen von unten.“

„Es ist ihr gedanklicher Besitz!“, entgegnete Ingrid harsch. „Du nimmst ihnen das, was sie ausmacht. Fang lieber an, selbst etwas zu erleben. Sammle deine eigenen Erfahrungen!“

„Meine haarigen Untertanen reden aber nicht mit mir“, klagte Harald sein Leid. „Ich denke, sie haben zu großen Respekt. Wie soll ich mich denn da austauschen?“

„Wie wäre es, wenn du dein Glück hier im Laden versuchst?“, schlug die Haube vor, „Niemand weiß, dass du ein Gott bist. Und was mich betrifft, ich kann schweigen wie ein kaputter Fön.“

Harald schmunzelte.

„Du meinst, ich soll mich mit den Alten unterhalten, statt sie geistig zu berauben?“
„Genau!“, antwortete Ingrid. „Sie freuen sich bestimmt über einen Plausch mit dir. Den Klatschzeitschriften im Laden machst du mit deinem Wissen allemal Konkurrenz.“

Die Frisörin stellte ein Tablett mit Kaffee und Keksen vor die nächste Kundin. Harald atmete tief ein und sprang leichtfüßig wie ein junger Gott von der Haube Richtung Kaffeetasse. Aber anstatt wie geplant, elegant mit seinem Po auf dem Rand zu landen, machte er eine Arschbombe in die braune Suppe.

Die Kundin erschrak. 

„Mist, der Keks ist in den Kaffee gefallen!“ Sie griff Harald am Bein und zog ihn kopfüber heraus. „Seltsame Form“, grübelte sie und führte ihn zum Mund, „bestimmt selbst gebacken.“

„Ich grüße Sie!“, sagte der Göttliche.

„Heilige Mutter Gottes!“, entfuhr es der Dame und sie riss die Augen auf.
„Ach, Sie kannten Beatrix von Bürstenix?“, fragte Harald erstaunt.

„Der Keks spricht!“ Sie schnippte ihn angewidert zurück aufs Tablett. „Alle warnten mich vor dem Haarfärbemittel. Aber ich wollte ja nicht hören. Jetzt haben wir den Salat. Es ist in mein Gehirn gesickert.“

„Ich kann Ihnen versichern“, besänftigte sie Harald, „dass mit Ihrer Rübe alles fein ist.“ 

Die Dame setzte sich ihre Brille auf und betrachtete ihr Gegenüber genauer: „Sie erinnern mich an meinen Enkel. Erwin hatte auch eine Lockenpracht.“

„Hat er sie abschneiden lassen?“, fragte Harald.

„Das weiß ich nicht“, antwortete die Dame, „Es ist lange her, dass er mich besuchte.“ Sie sah auf den Frisörumhang und pulte ein Stück getrocknete Farbe ab. „Ich würde gerne so viel von ihm erfahren.“

„Unterhalten Sie sich doch mir!“, forderte Harald sie auf und rollte ihr lächelnd einen Keks rüber.

„Dankeschön. Sehr lieb von Ihnen! Wenn ich mal davon absehe, dass ich Sie mir wahrscheinlich nur einbilde.“

Die Frisörin kam zu ihnen. 

Harald versteckte sich schnell hinter der Kaffeetasse, während der alten Dame die Trockenhaube über den Kopf gestülpt wurde. 

„Stop!“, brüllte der Göttliche und sprang auf die Schulter der Dame. „Sei bitte sanft zu ihr, Ingrid.“
Daraufhin umspielte lediglich ein laues Lüftchen das feine graue Haar.

„Das ist angenehm“, schwärmte die Dame leise und ihr Gesichtsausdruck entspannte sich,
„Ich fühle mich geborgen. Dieses Gefühl kannte ich gar nicht mehr.“

Der Gott ließ sich auf ihre Schulter nieder und schmiegte behutsam seinen Kopf an ihren:
„Ich auch nicht.“

Die Dame lächelte: „Wollen wir unser Gespräch bei meinem nächsten Salonbesuch fortsetzen?“

„Ja sicher“, antwortete Harald und strich sich die Lockenpracht aus dem Gesicht.
Er sah zu ihr auf: „Und rufen Sie Ihren Enkel an. Fragen Sie, wie es ihm geht. Dann haben wir neuen Gesprächsstoff.“
Zwinkernd fügte er hinzu: „Und vor allem, können Sie mir dann verraten, ob er seine Lockenpracht noch hat.“

„Abgemacht! Das ist eine hervorragende Idee.“