Die saugfähige Sabine

Kurzgeschichte
„Die saugfähige Sabine

Es war kurz vor Feierabend. Eine Mutter zog hastig ihre 12-jährige Tochter durch den Supermarkt: „Schau da nicht so hin! Es gibt offensichtlich Gründe warum sie nicht gekauft wurde!“
Sabine hörte dies und ließ den Blick durch die Regal-Nachbarschaft schweifen.
Sie war offensichtlich gemeint, denn alle anderen Packungen waren verkauft.

Dicke Tränen kullerten über ihre saugfähige Oberfläche, bis sie kurz darauf in selbiger verschwanden.
„Was stimmt nicht mit mir?“, fragte sie verzweifelt.

Tim, ein einzelnes Taschentuch gegenüber im Regal, sah mitfühlend auf sie herab:
„Ich würde ja deine Tränen trocknen, aber wie ich sehe, kannst du das gut allein.“
„Weißt du warum mich keiner will?“, fragte Sabine.

Tim legte die Papierstirn in Falten: „Jemand hat sich einen Streich erlaubt und mit Edding auf deine Verpackung geschrieben.“ Sabine sprang empört aus ihrem Karton und betrachtete die Übeltat:
„Periodika – Binde des Grauens!“

„Oh nein! Was mache ich jetzt bloß?“, fragte sie und ihre Flügel zitterten vor Aufregung.

„Vielleicht hat mein Freund eine Idee!“, schlug Tim vor, „Er hält sich meist unter der Käsetheke auf und ist ein äußerst kluges Kerlchen.“ Kaum zu Ende gesprochen, machte sich Tim auf den Weg und kam kurze Zeit später mit seinem kauenden Freund im Schlepptau zurück.

„Darf ich vorstellen?“, präsentierte er, „Das ist Max!“
„Hi Sabine, grüß dich!“, flötete der Lederjacke tragende Nager, „Wo drückt denn der Schuh?“ Die Binde zeigte zitternd auf ihre Verpackung.
„Oh Mist!“, entfuhr es Max, „Ich sehe das Problem!” Er kratzte sich kurz am Hinterkopf: „Bleib ruhig meine Liebe, ich habe eine Idee, wie du dich trotzdem nützlich machen kannst!“

Die Maus bastelte im Handumdrehen aus Ohrenstäbchen eine Leiter, stellte sie ans Regal und nahm Sabine huckepack. „Vertraust du mir?“, fragte Max lässig, während er mit ihr hinabstieg.
„Ja, das tue ich!“, begann Sabine zu schwärmen.

Der Nager zog die Binde eng an sich und durchquerte mit ihr blitzschnell die Gänge.
Sabine wehrte sich nicht. Ganz im Gegenteil. Sie schmiegte sich fest an seine Brust.
Gemeinsam erreichten sie das Lager und stiefelten durch Millimeter hohe Pfützen.
Die Luft war von Feuchtigkeit durchtränkt und es roch nach Essensresten und saurer Milch.
In der hintersten Ecke, dort wo sich nur noch die mutigen Lichtstrahlen hin trauen, entdeckte Sabine Umrisse von Konserven.

„Wo sind wir hier?“, fragte sie verunsichert. Max griff ein Streichholz und schwang es fest umklammert an einer Schachtel entlang. Ein gewaltiger Feuerball entzündete sich und die Maus hielt die Flamme an zwei Kerzen, die rechts und links von ihnen standen.

Die Binde traute ihren Augen nicht. Sie befand sich inmitten eines beeindruckenden Eingangsportals. Genauer gesagt, unter einer Grillzange.
In der Ferne erspähte sie ein hohes schlankes Tetrapack Milch, auf dem ein Kreuz aus Zahnstochern empor ragte.
„Da möchte ich hin!“, rief sie begeistert und Max nahm sie behutsam an die Hand.

Gemeinsam beschritten sie den Weg. Je näher sie der Packung kamen, desto mehr dunkle Gestalten huschten vorsichtig an ihnen vorbei.

An der Kirche angekommen, entzündete Max weitere Kerzen und Sabine schaute sich erwartungsvoll um. Sie wurde nicht enttäuscht: Umgestülpte zerbeulte Ravioli Dosen, soweit ihr Auge reichte. In den Konserven befanden sich leicht aufgeschobene Streichholzschachteln mit kleinen Deckchen darin. Es gab auch einen Spielplatz: Verbogene Pfannenwender waren dort mit Draht an Gestängen befestigt, so dass sie frei schaukelten und ein geplatzter Beutel Reis diente als Sandkasten.

„Du hast ein eigenes Dorf gegründet?“, fragte die Binde mit großen Augen, während Max noch damit beschäftigt war, das Streichholz auszupusten.

„Ja! Ich nenne es ‘Das Dorf der Vergessenen’. Hierher bringe ich Produkte, die niemand mehr haben will.“

„Du gibst ihnen ein neues zu Hause“, lächelte Sabine und klatschte ihre Flügel zusammen.

Aus den Schatten der Dosen trat ein Mini-Gemüse-Hobel ins Kerzenlicht und winkte Sabine schüchtern zu. Ihm fehlten ein paar Zacken und sein Griff war deutlich verbogen.
Hinter ihm hockte eine kleine Eier-Tupperschale, die offensichtlich fror, da sie keinen Deckel mehr trug. Die beiden hielten sich an den Händen und verschwanden in der Milchpackung.

„Was machen sie dort?“, wollte Sabine wissen.
„Da sie nicht mehr viel im Leben haben, halten sie sich an ihrem Glauben fest.
Sie beten zum Konsumgott.“

„Sind alle Dorfbewohner in der Kirche?“, fragte Sabine und schaute sich zwischen den Dosen um.
„Ja, sie besuchen die Abendmesse, die der abgelaufene katholische Joghurt gibt.“

„Verstehen sie sich untereinander so gut, wie die beiden eben?“
„Die Bewohner schon. Aber es gibt einen wiederkehrenden Störenfried im Supermarkt, der sich zur Bedrohung für das Dorf entwickelt. Es handelt sich dabei um keine geringere – als die cholerische Sektflasche Sigrid. Sie flippt regelmäßig aus, da sie bisher nie im Angebotsblatt stand. Ihr großer Traum, endlich verkauft zu werden, droht dadurch zu platzen. Genau wie sie selbst. Daher musst du uns helfen Sabine!“, sagte Max mit festem Blick.

„Wie kann denn ausgerechnet ich helfen, diese Explosion zu verhindern?“
„Indem du tust, wofür du geschaffen wurdest Sabine!“
Die Binde dachte kurz nach, verstand und postierte sich vor dem Eingang der Milchpackung.
Sie würde nicht zulassen, dass der Sekt die Kirche sprengt.

Plötzlich stand Tim völlig durchgeschwitzt vor den beiden: „Ich werde verfolgt!“, keuchte er, „Sie ist mir direkt auf den Fersen!“

Das Taschentuch hatte den Satz noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da hörten die drei ein unheimliches Brodeln auf das Dorf zukommen. Es erinnerte an einen Vulkan kurz vorm Ausbruch.

Es knallte. Das Eingangsportal wankte und kippte kurz darauf zu Boden, die Kerzen erloschen. Ein großer dunkler Umriss beschritt den Weg. Er überragte bei weitem die Ravioli Dosendächer und war gar höher als der Kirchturm.

Wer gerade noch mit gesenktem Kopf zur Kirche pilgerte, rannte jetzt vor Panik.

Nach nicht enden wollenden Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten, trat die Bedrohung ins Licht des Kirchplatzes.
Es war Sigrid.
Ihr Sekt wippte aufgebracht umher und drückte dabei ihren Korken immer ein Stückchen weiter aus dem Hals. „Sogar die Piccolos lachen schon über mich! Das muss aufhören!“, fluchte die Flasche lautstark.

Max und Tim sprangen schnell hinter eine Dose, während Sabine ihren Mut zusammen nahm.

Noch nie in ihrem Leben war sie so froh darüber, eine XL-Binde zu sein und keine zierliche S. Denn hier kam es jetzt auf wahre Größe an. Sie zog entschlossen ihre Schutzfolie am Rücken ab und entfaltete sich zu ihrer gesamten Schönheit.
Mit Anlauf sprang sie in die Luft und klebte an der Kirche fest.

Sigrid war inzwischen fuchsteufelswild und schüttelte sich wie ein Cocktail Shaker zur Happy-Hour.
„PLOPP!“ Der Korken verließ im hohen Bogen die Flasche und schoss das Kreuz von der Kirche.
Sigrid fiel vor Schreck in Ohnmacht und der Sekt steuerte wie eine Flutwelle direkt auf Sabine zu. Diese holte tief Luft und schloss ein Stoßgebet murmelnd die Augen.

Der gesamte Flascheninhalt ergoss sich erbarmungslos über die Binde. Sabine saugte – auf Teufel komm raus.

Prall gefüllt zitterte sie aus Angst der Herausforderung nicht stand zu halten. Aber sie hielt dicht. Und die Konserven ringsherum waren Gott sei Dank robust genug, um diese Katastrophe zu überstehen.

Passend zu diesem Moment hörte sie von den Bewohnern in der Kirche ein lautes „AMEN!“

„Das ist mein Mädchen da oben!“, sagte Max gerührt zu Tim und seine Knopfaugen glänzten im Kerzenschein. Tim klopfte ihm auf die Schulter: „Sabine ist auch nicht irgendeine Binde, wie du sie an jeder Regalecke findest mein Freund. Sie ist etwas ganz besonderes!“

Der Spuk war vorbei und Max zog seine Sabine behutsam von der Kirche: „Du hast heute großes geleistet. Ich danke dir!“ Sabine lächelte erschöpft und gab ihm einen nassen Kuss auf die Stirn.

Von dem lauten Schmatzer kam Sigrid wieder zu sich und murmelte: „Was passiert denn jetzt mit mir? Ich fühle mich so leer! Es tut mir leid dass ich vor lauter Wut meine Fassung verlor!“ Max half ihr auf und umhüllte sie mit einer Decke. „Sigrid“, sagte er versöhnlich, „ich biete dir einen Job in unserem Dorf als Sicherheitsbeauftragte an. Na was sagst du? Alle haben schließlich großen Respekt vor dir!“ Die Flasche lächelte verlegen: „Ja sehr gerne!“

Die Kirchentür öffnete sich und die jubelnden Bewohner, die alles vom Fenster aus beobachtet hatten, stürmten heraus. Sie gaben Sabine zu Ehren an diesem Abend ein rauschendes Fest. Max besorgte dafür allerhand Leckereien aus der Delikatessenabteilung und Sabine war für die Getränke zuständig. Ihr Flüssigkeitsdepot war schließlich randvoll. Sie wurde von den Bewohnern reihum kräftig umarmt, so dass die Gläser stets voll waren.

Somit wurde es für alle ein feucht fröhlicher Abend.

Zwischendurch nahm Max Sabine zärtlich beiseite und flüsterte:
„Übertreib es heute bitte nicht! Morgen musst du fit sein!“
„Wofür denn?“
„Für dein nächstes Abenteuer! Der Mäuse-Militär Übungsplatz in der Getränkeabteilung sucht einen neuen Fallschirm.“