Banner_Oh_Sohle_Mio

Kurzgeschichte
„Oh Sohle Mio!

Mio hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Träume von Freiheit begleiteten ihn. Er schaute müde in der Werkstatt vom Regal herab, als das kleine Glockenspiel über der Ladentür im Verkaufsraum aufgeregt zu bimmeln begann.

Eine Frau stürmte herein und donnerte ein Paar Laufschuhe auf den Verkaufstisch. „Hier, die können Sie wiederhaben!“, fuhr sie den Schuster an. „Die Schuhe haben meinen kleinen Oskar zu Fall gebracht. Er hat sich den Fuß gebrochen!“

Der Schuster zögerte nicht lange und gab der Frau ihr Geld zurück. Noch ehe er sich entschuldigen konnte, machte sie auf dem Absatz kehrt und ließ die Tür mit einem kräftigen Rums ins Schloss fallen.

Die in Ungnade gefallenen Schuhe, Laufschuh Lisa und ihr Mann Lothar, schauten der Dame verständnislos hinterher.

„Habt ihr keine Manieren?“, fragte der Schuster kopfschüttelnd und hob die beiden vom Tisch.

„Der Junge war so langsam, dem hättest du im Gehen die Schuhe besohlen können!“, verteidigte sich Lothar. Der Schuster verkniff sich ein Schmunzeln und schob die Laufbegeisterten mit dem Fuß unterm Vorhang zur Werkstatt durch.

Mit einem Satz sprang das Paar zu Mio ins Regal.
„Was habt ihr mit dem Jungen angestellt?“, wollte er wissen.
„Ach Mio!“, seufzte Lothar, „Schau uns nicht so vorwurfsvoll an. Solange du nur eine Sohle bist, verstehst du uns Paare nicht! Lisa und ich stehen im ständigen Wettkampf zueinander!“

„Ihr müsst als Team arbeiten!“, entgegnete die Sohle, „Kein Wunder, dass der Junge über seine eigenen Füße stolperte.“

Ein schickes Paar Lederschuhe, welches eine Etage unter Mio im Regal stand, meldete sich pikiert zu Wort: „Hey ihr da oben, seid gefälligst leiser!“

Abrupte Stille kehrte ein, bevor ein biestiger Ballerina vom Boden hoch bölkte: „Hat das feine Paar etwa Angst, seinen Schönheitsschlaf zu verpassen? So glatt poliert wie ihr seid, habt ihr doch bestimmt was machen lassen! Nach ‘In Würde altern’ sieht mir das zumindest nicht aus!“

Einer der Lederschuhe sprang aus dem Regal und kickte den Ballerina gekonnt unter den Schrank.
„Geh uns nicht auf den Leim!“, rief er lässig hinterher.

Mio lehnte sich derweil neugierig nach vorn, um ebenfalls einen Blick auf das glatt gebügelte Paar zu erhaschen. „Warum dürfen wir euch eure Lebenserfahrung nicht ansehen?“, fragte er.
„Gott bewahre!“, entgegnete das feine Paar, „Reicht, wenn wir wissen, durch welch tiefe Pfützen wir gegangen sind.“

„Ich fände es aber interessanter euch anzusehen, was ihr erlebt habt“, kommentierte Mio.

Der Schuhanzieher vom Verkaufsraum unterbrach das rege Treiben. Er schaute um die Ecke und mischte sich ins Geschehen ein: „Mio, du bist doch selbst noch glatt wie ein Kinderpopo!“

„Ich durfte ja auch noch nichts erleben!“, verteidigte er sich.
„Umso schneller du dich deinem Schicksal fügst eine Partnerschaft einzugehen, desto schneller trägst du Spuren davon. Schuhe werden dafür geschaffen, zu Zweit durchs Leben zu gehen!“

Beeindruckt von seinen eigenen Worten ging der Schuhanzieher so schnell wie er kam und verschwand kopfüber in einem pompösen Damenschuh.

„Oh Sohle Mio! Was mache ich bloß mit dir?“, fragte der Schuster während er seinen Kopf durch den Vorhang schob. „Hör nicht auf den langen Läster-Löffel! Er ist nur neidisch, weil er sich eingeengt und unterdrückt fühlt“, sagte er und nahm Mio behutsam in die Hand.
„Bist du denn sicher, dass du alleine bleiben möchtest?“

Die Sohle lächelte: „Ja, das bin ich! Ich bin mir selbst genug!“

Der Schuster schaute mit prüfendem Blick über den Rand seiner Brillengläser.

„Na gut, einverstanden!“, stimmte er schließlich zu und griff in die Schublade der Werkbank. Mit einer Zange befestigte er im Handumdrehen zwei Riemchen an der Sohle.

„Ich bin ein Flip Flop!“, stellte Mio mit Begeisterung fest als er an sich herab sah.

„Erstens, bist du ein Flip ohne Flop“, frotzelte der Ballerina unterm Schrank hervor, „und zweitens, wer braucht denn nur einen Schuh?“

Bei Lisa und Lothar fiel der Groschen zuerst und sie antworteten im Chor:
„Oskar, der Junge mit dem gebrochenen Fuß!“

„Ganz Recht ihr Zwei!“, nickte der Schuster und legte den aufgeregten Mio in einen Geschenkkarton.

„Mein Abenteuer beginnt!“, sagte die kleine Sohle voller Stolz und verabschiedete sich mit einem Freudensprung.

Der Schuster schloss vorsichtig den Deckel und das Glockenspiel ließ zum Abschied seine Glöckchen tanzen.

So wurde ein Schuh draus.