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Kurzgeschichte
„Pränataler Regen“

Ute rutschte ungeduldig auf dem Toilettendeckel im Bad hin und her. Nervös kaute sie auf ihren Fingernägeln und wackelte hektisch mit den Füßen.

Alle zehn bis fünfzehn Sekunden wanderte ihr Blick unsicher zu dem Schwangerschaftstest, den sie mit beiden Händen fest umklammert hielt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte endlich ein Symbol im Anzeigefeld des Tests auf. Ute erwartete „zwei“ oder bestenfalls nur „einen“ Strich. Und was bekam sie?
Ein Regenschirmsymbol.

Sie schaute kopfschüttelnd auf den Test und dachte darüber nach, was dieses Symbol wohl bedeuten mochte.

Eine zarte Stimme ertönte im Raum und unterbrach ihre Gedanken: „Meinst du nicht, das war gerade etwas unhöflich?“

„Wer hat das gesagt?“, erschrak Ute und schaute im Bad umher. Der Schwangerschaftstest in ihren Händen hob zaghaft einen Arm und winkte ihr langsam zu.

Sie sah ihn überrascht an: „Du sprichst!“, stellte sie fest. „Gut kombiniert, junge Dame!“, gab er zurück. Ute versuchte, in dieser surrealen Situation so entspannt wie möglich zu bleiben und sich seiner Frage anzunehmen. „Was genau meinst du mit unhöflich? Dass ich vielleicht vorhin etwas ruppig deine Schutzkappe abgezogen habe?“, fragte sie.

„Nein! Ich spreche ganz offen die Tatsache an, dass du mich angepinkelt hast! Hättest dich ja zumindest vorher kurz vorstellen können“, sagte er beleidigt und verschränkte die Arme.

Ute holte tief Luft, zählte bis drei und sagte dann lauter, als sie es ursprünglich vorhatte: „Hi! Ich bin Ute! Und wer bist du?“ Der Test antwortete umgehend versöhnlich: „Na geht doch, Ute. Ich bin Rüdiger! Und jetzt, wo wir die Formalitäten geklärt haben, kommen wir zum Wesentlichen.“ Er kniff die Augen zusammen, sodass er nur noch durch kleine Schlitze gucken konnte.
„Was willst‘n wissen?“

„Na ja, bestimmt nicht wie das Wetter morgen wird!“, entgegnete Ute.

Rüdiger äußerte sich enttäuscht: „Das ist jetzt blöd!“
„Wieso?“, fragte Ute.
„Weil es Morgen regnen wird!“, stellte er fest.
„Woher weißt du das? Etwa durch das Regenschirmsymbol?”, Ute deutete auf sein Anzeigefeld.

„Deine Vermutung ist richtig. Das Symbol bedeutet Regen! Würde uns morgen ein schöner Tag bevorstehen, wäre eine Sonne zu sehen.“ Ute hob den Zeigefinger: „Findest du nicht, du solltest das tun, für was du bestimmt bist?“

Rüdiger antwortete mit ruhiger, aber fester Stimme: „Woher nimmst du dir das Recht, zu wissen, wofür ich bestimmt wurde?“ Ute zuckte mit den Achseln: „Es steht auf deiner Verpackung.“

Rüdiger fuhr fort: „Ich finde wir leben in einer Welt, wo jeder das machen sollte, was ihn erfüllt. Die Chance nutzen, sich zu verwirklichen. Verstehst du was ich meine, Ute? Und wenn ich mich schon anpinkeln lassen muss, möchte ich wenigstens selbst darüber entscheiden, welche Erkenntnisse ich daraus ziehe.“

„Und welche wären das?“ Ute hatte ihre Frage noch nicht ganz zu Ende gestellt, da bereute sie schon ihr Interesse an den Träumen eines Schwangerschaftstests.

Rüdiger verkündete stolz: „Ich möchte das Wetter vorhersagen! Ich bin eine Art Meteorologentest.“

„Also ein Wetterstäbchen?“, fragte Ute grinsend.
„Hey, jetzt werd mal nicht persönlich, Ute! So wie du es sagst, klingt es leicht abwertend.“ Rüdiger erhob mahnend einen Zeigefinger. „Entschuldige bitte“, sagte Ute, während sie den Kopf sank.

Der Test erklärte: „Nur weil man gewisse Voraussetzungen für etwas hat, muss man sie noch lange nicht nutzen. Oder meinst du, jedes hübsche Mädchen will auf den Laufsteg? Vielleicht sind auch ein paar dabei, die lieber Busfahrerin werden möchten.“

Ute musste unweigerlich zugeben, dass Rüdigers Aussagen Sinn ergaben. Der Test fuhr fort: „Und ich glaube ich habe eine Marktlücke entdeckt. Wenn Meteorologen mal einen schlechten Tag haben, sich unsicher sind, welche Wettervorhersage die richtige ist, dann komme ich ins Spiel. Innerhalb von wenigen Minuten erhalten sie ein 99 Prozent sicheres Ergebnis. Vorausgesetzt, sie pinkeln mich vorher an. So sind nun mal die Regeln.“

Ute nickte und bemerkte: „Ich kann dich durchaus verstehen und gönne dir deine Verwirklichung, aber wie finde ich denn nun heraus, ob ich schwanger bin?“

Rüdiger hatte ein schlechtes Gewissen. Er wollte helfen und beruhigte sie: „In der Verpackung ist ein zweiter Test. Das ist mein guter Kumpel Otto. Der ist sehr präzise, wenn es darum geht, eine Schwangerschaft festzustellen. An guten Tagen kannst du sogar noch mehr Infos aus ihm rauslocken.“

Ute fragte aufgeregt: „Zum Beispiel wie fortgeschritten meine Schwangerschaft ist?“ Rüdiger verneinte vehement: „Nee, er kann dir den Namen des Typen anzeigen, von dem du schwanger bist.“

Ute wurde knallrot und flüsterte beschämt: „Ach, die Tatsache, ob ich schwanger bin, würde mir völlig ausreichen.“ Rüdiger pfiff einmal laut in Richtung Verpackung und Otto kam sofort entzückt auf die beiden zugeschossen. Er blieb vor Ute in freudiger Erwartung stehen und sagte: „Okay, auf geht‘s! Ich bin bereit!“

Ute nickte und ging in die Küche, um ein großes Glas Wasser zu trinken. Auf dem Rückweg zum Bad legte sie einen Regenschirm neben die Eingangstür.
Schließlich wurde für Morgen schlechtes Wetter vorhergesagt.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Lisa🌈

    Super…. sehr schöner Gedanke 👍🙂

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