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Kurzgeschichte
„Der deprimierte Dieter

„Dieter, wo bleibst du? Wir wollten doch zusammen essen gehen!“, rief das hübsche Rotkehlchen Regina in den Laubhaufen hinein.

„Ich gehe nirgendwo hin!“, donnerte eine Stimme zwischen den Blättern hindurch,
„Ich bin hässlich wie die Nacht und meine Stacheln pieksen. Ich tue allen nur weh!“
„Wie kommst du darauf dass du hässlich bist?“, fragte sie und zupfte etwas Moos beiseite.

„Die Elster hat einen Spiegel im Garten fallen lassen. Ich dachte mich trifft der Schlag, als ich reinschaute. Meine Schnute ist viel zu spitz! Meine Augen sehen aus wie winzige Kohlestückchen, und dass meine Vorderbeine kürzer als die Hinteren sind, macht mich auch nicht gerade zum ‚Tier des Monats’“

„Aber die Menschen mögen euch Igel doch, oder?“, fragte das Rotkehlchen. Sie kramte sich mit ihrem Schnabel weiter einen Weg in den Haufen hinein, bis der Boden feucht wurde und ein beißender Gestank in der Luft lag.

„Denen geht es nur um das Gefühl, etwas Gutes zu tun. Sie stellen mir schälchenweise Milch in den Garten. Aber fragt mich mal einer, ob ich die überhaupt vertrage? Ich bin laktoseintolerant, ich scheiß mich dumm und dämlich von dem Zeug!“

Wind kam auf und wirbelte Laub in Reginas Gesicht: „Das ist ja der reinste Shitstorm hier!“ schimpfte sie und hüpfte empört aus dem Haufen.

Dieter fuhr unbeirrt fort: „Und du hast leicht Reden mit deinem imposanten roten Vorbau! Warst du doch mehrere Male ‚Vogel des Jahres‘. Du musst nicht mal etwas tun, um gemocht zu werden. Bei deinem Anblick allein haut es ja schon alle aus den Socken!“

Regina wischte sich die besudelten Krallen am Rasen ab: „Dieter, so einfach ist das nicht! Ich werde unterschätzt. Alle denken ich sei dumm wie Brot. Daher muss ich mich immer erst beweisen, um ernst genommen zu werden. Das ist anstrengend!“

Ein hektisches Rascheln im Gebüsch ließ die beiden aufhorchen. Die Ratte Rudi kam wie ein Rennwagen um die Ecke geschossen und bremste mit seinen Krallen kurz vor dem Laubhaufen:
„Hier riescht et aber komisch! Mir is schon janz blümerant!“
Regina zischte die Ratte an: „Sei still! Dieter ist schon deprimiert genug!”
„Wieso, hat er wieder seene fünf Minuten?“ 

Bevor sie antworten konnte, lugte Dieters Schnute aus den Blättern: „Rudi, du verstehst mich nicht! Du erlebst Abenteuer tief in den Abwasserkanälen. Du bist der Kanal-King!“ 

Die Ratte setzte sich auf ihren behaarten Hintern: „Ick sach dir jetzte mal det Eene. Ratten müssen täglisch ufpassen dat se nüsch verjiftet oder erschlagen werden, wa? Dit is och keen Pappenstiel meen Lieber! Dit sach ick euch janz im Vertrauen!“

Dieter kroch aus dem Laubhaufen und ließ sich nachdenklich neben Rudi in den Rasen plumpsen. „Ich habe mir dein Leben anders vorgestellt!“
Die Ratte legte einen Arm um Dieter, zog ihn aber hastig wieder zurück, als er die Stacheln berührte.

Suse, eine Schnapsdrossel die das Treiben vom Baum gegenüber beobachtet hatte, kam zu ihnen. „Entschuldigung, dass ich hier so reinplatze, aber das Gejammer war nicht zu überhören! Dieter, die Welt ist schön! Du musst nur deine kleinen Kohle-Äuglein aufmachen!“, flötete sie.

Dieter sah zu ihr auf: „Bei deiner Fröhlichkeit glaube ich dir gern, dass dein Glas immer halbvoll ist!“
Suse stupste den Igel an: „Ich sag es nicht gern,” flüsterte sie, „aber eigentlich bin ich ein ziemlich unsicherer Vogel. Von dieser Tatsache versuche ich lediglich abzulenken!“
„Ja, dit kannste rischtig jut, wa?“, nickte Rudi.

Suse überhörte die Bemerkung und holte ein Körbchen aus ihrem Nest. Sie überreichte es Dieter, der sogleich seine Schnute darin versenkte.
„Da drin riecht es ja wie im Schnapsladen!“, sagte er empört und rümpfte die Nase.  

Das Rotkehlchen stand derweil so ungünstig im Wind, dass es von dem Geruch umfiel.

„Ich sammel Korken!“ verkündete die Schnapsdrossel stolz.
„Und was habe ich damit zu tun?“, fragte der Igel.
Daraufhin nahm Suse einen und steckte ihn mit Schmackes auf Dieters Stachel.

„Jetzte macht se kleene Spießchen aus dir meen Freund, pass uff! Fehlt nur noch een Träubchen und een Stück Keese, wa?“ Rudi war sichtlich amüsiert.

Der Igel hingegen eher skeptisch, was genau da auf seinem Rücken passierte.

Während Rudi dem Rotkehlchen mit unbeholfenem Luft-zu-wedeln wieder auf die Beine half, ließ sich Suse nicht beirren und stülpte weiter fröhlich Korken um Korken auf Dieters Stachel.

Als sie ihre Arbeit beendet hatte, begann der Igel zaghaft zu lächeln: „Ich glaube, ich weiß was du vorhast!“ Suse zwinkerte den Freunden zu und gemeinsam umringten sie den Igel.
„Ran an de Buletten!“, rief Rudi und sie nahmen Dieter so fest in den Arm, wie sie konnten.

Tränen stiegen ihm in die Augen. 

„Das gefällt mir!“, sagte er gerührt. „Aber was mache ich den Rest des Tages?
Ihr könnt mich ja nicht die ganze Zeit umarmen!“

„Du wirst meen Oberstirnbandführer kleener Dieter“, verkündete Rudi entschlossen und rieb sich zufrieden die Plauze.

„Was bedeutet das?“, fragte der Igel.
„Du bist een echtes Jeschoss! Dit macht Eendruck, verstehst de? Ick kann disch jut jebrauchen!“

Suse und Regina sahen dem Igel Zweifel an.
„Dieter, hab keine Angst!“, beruhigten sie ihn, „Da wartet ein Abenteuer auf dich! Vertrau dem Kanal-King!“

Er nahm seinen Mut zusammen und lief mit der Ratte aus dem Garten.
Hindurch unter parkenden Autos, quer über die stark befahrene Straße.

Die Ratte packte den Igel schließlich am Vorderbein und gemeinsam sprangen sie durch einen geöffneten Gulli.

Zwei ohrenbetäubende Bauchklatscher waren das Ergebnis. 

Dieter bekam durch die Korken Auftrieb und Rudi zog ihn rasch auf den Rand.
Die beiden verschwanden immer weiter in den Tiefen des Abwasserkanals. 

Plötzlich blieb die Ratte wie angewurzelt stehen. „Pssst!“, zischte sie in Dieters Richtung, „Da sind se!“, und deutete auf ein paar dunkle Gestalten in der Ecke. Dieter erstarrte vor Angst und hielt inne.
„Wer ist das?“, fragte er leise und ließ seine Kohle-Äuglein hektisch von links nach rechts wandern.

„Dit is Paule und seene Fratzenbande! Janz fiese Ratten sach ick dir!“, antwortete Rudi, „Die schmuggeln Nussnougatcreme. Aber nu is Schluss mit lustisch!“
„Und wie kann ich dir helfen?“, fragte Dieter verunsichert.
„Indem de an disch glaubst meen Lieber! Schleich dich an se ran und warte uf meen Kommando!“

Dieter gehorchte. 

Die Ratten wurden zunehmend unruhig, da sie den Igel zwar nicht sahen, aber Rudi dafür umso mehr rochen. Es galt keine Zeit mehr zu verlieren.

„Atme so tief een wie de kannst!“, rief Rudi, „Und dann halt de Luft an!“
Dieter befolgte die Anweisung. Er blähte sich auf und seine Stacheln begannen zu vibrieren.
Es klang, als ob ein Luftballon aufgepustet wurde.

Paule und seine Fratzenbande entdeckten den Igel und bekamen Angst. Sie versuchten zu fliehen. Vor lauter Panik krabbelten sie alle hektisch übereinander, so dass ein absolutes Chaos entstand. 

Ehe sie sich versahen, schossen Dieters Korken durch die Luft und trafen einen Nager nach dem anderen.
Die Ratten fielen wie Schießfiguren auf dem Jahrmarkt um.

Im Nu war die Bande erledigt.

„Haben wir gewonnen?“, fragte Dieter neugierig.
„Jjjjup!…“, grinste Rudi und kraulte sich genüsslich am Hintern.

„Das hat Spaß gemacht! Kann ich weiter dein Oberstirnbandführer sein und helfen die Feinde in den Wind zu schießen?“

„Na klaro! Wir sind jetzte een Team!“ Die Ratte nickte zufrieden, während von weitem wilde Fluggeräusche durch den Kanal hallten.
„Was kommt da auf uns zu?“, fragte Dieter voller Adrenalin, „Soll ich mich wieder bereit machen?“

„Nee!“, entgegnete Rudi entspannt, „Dit is Suse mit’m Körbchen. Wir müssen disch erst ma Nachladen meen Lieber!”

Der Igel begann zu lachen und freute sich tierisch auf die Abenteuer, die ihm noch bevorstanden.