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Kurzgeschichte
„Florian Furunkel

Florian Furunkel lebte seit Jahrzehnten in den dunklen Geheimgängen eines Schlosses. Nur selten schlich er tagsüber außerhalb der Kellergewölbe durch die Zimmer. Zu groß war die Sorge, erwischt zu werden. Seine Angst war nicht unbegründet, da er oft durch seinen unförmigen Körper etwas umstieß. 

Des Nachts, wenn ihn der Hunger plagte, räuberte er die Vorratskammer. Dort gab es Käse mit Löchern so groß, dass Mäuse darin wohnten. Massen von Brotlaibe, um ganze Kompanien satt zu bekommen. Und Schinken, der von der Decke baumelnd darauf wartete, Florian direkt in den vor Sabber triefenden Mund zu fallen.

Dieses Mal war seine Gier allerdings zu groß. Er wurde unvorsichtig und trat einen Bottich um. Ein ohrenbetäubendes Scheppern hallte durch den Raum. Schnell griff er seine Beute und rannte zurück in die sichere Dunkelheit. 

Aber nicht ganz unbemerkt. Er hinterließ feuchte Fußspuren auf dem grauen Steinboden.

Fräulein Agathe, die Tochter des Hauses, hörte die Geräusche. Auf Zehenspitzen tippelte sie durch die Gänge. Entlang der Wandfackeln, bis ihr der Duft von Köstlichkeiten in die Nase stieg.

Plötzlich wurde es feucht unter ihren Füßen. „Ih! Hier hat wohl ein Geist hingepinkelt!“, fluchte sie und ihre zarte Stimme flatterte an den groben Mauern entlang. 

Die einzige Reaktion auf ihr Schimpfen war das schaurige Kichern der Kellerasseln. 

Anstatt instinktiv die Beine in die Hand zu nehmen, blieb Agathe aber wie angewurzelt stehen. Sie nahm ihren Mut zusammen, und sah sich den Boden genauer an. 

Rosa schimmernde Fußabdrücke.   

Sie strich mit dem Finger durch den Bodenbelag und roch daran. „Merkwürdig“, flüsterte sie, „Cremig und riecht wie Erdbeerjoghurt.“ 

Ein peitschendes Geräusch riss sie aus den Gedanken. 

„Scheiße!“, kam ihr eine Stimme entgegen. Florians Füße hatten sich in einer Wurstkordel verfangen. 

Seine fleischige Beute knallte zu Boden. 

„Warte, bleib stehen! Ich habe keine Angst vor Geistern“, rief Agathe in die Dunkelheit.

„Das trifft sich gut!“, entgegnete Florian bei dem Versuch, seine Füße zu entwirren, „Ich bin nämlich keiner.“

Das Mädchen strich sich den Joghurt von den Zähen und schlich im Slalom um die Flecken.

„Wenn du kein Geist bist, wer oder was bist du dann?“, wollte Agathe wissen.

„Ich bin Florian Furunkel“, erklärte der Erwischte.

„Warum heißt du ‘Furunkel’?“ Ihr Hals wurde immer länger.

Noch ehe er antworten konnte, fiel das Mondlicht durch eine zerbrochene Fensterscheibe auf seinen Rücken. Er war gekrümmt. Agathe sah auf einen Buckel mit einer Warzenvielfalt, die ihres Gleichen suchte.

„Keinen Schritt näher!”, ermahnte Florian und warf ihr ein Stück Käse an den Kopf. „Ich fress dich sonst, neugieriges Mädchen.“ Und schnitt eine Grimasse.

„Hehe, du bist halb so groß wie ich“, lachte Agathe, „Wie soll das gehen?“

„Ähm, ich habe einen senilen Magen. Da passt nicht viel rein, aber er vergisst schnell. Somit esse ich mehrmals am Tag. Ich könnte dich portionsweise fressen. Ist auch gesünder.“

„Hier wird niemand gegessen“, sagte das Mädchen bestimmt, „Erklär mir lieber, warum du in unserem Schloss bist. Wir haben dich nicht eingeladen.“

„Ich wurde mit einem Fluch belegt und hier eingesperrt.“ 

Es donnerte.
Die Fensterläden klapperten.

Florian erklärte weiter: „Ich darf das Schloss nie mehr verlassen. Tue ich es doch, gehe ich in Flammen auf.“

„Das ist ja furchtbar!“, entgegnete das Mädchen, „Wer hat dir das angetan?“

„Mein Halbblut-Onkel Olaf, da ich sein flüssiges Geheimnis kenne.“

„Mir kannst du es erzählen“, sagte das Mädchen mit ruhiger Stimme, „Mir glaubt eh keiner.“

„Mein Onkel und ich haben immer gemeinsame Sache gemacht. Da ich klein bin, hatte er mich in einem Kinderwagen versteckt. Wenn Olaf an einem Wirtshaus klopfte, ließen sie uns aus Mitleid eintreten. Er reichte mir dann heimlich einen Krug Bier in den Wagen. Nicht selten führte das dazu, dass wir schnell wieder Land gewinnen mussten.“

„Weil deine Tarnung sonst aufgeflogen wäre?“ Das Mädchen zog die Augenbrauen hoch.

„Nein“, entgegnete Florian harsch, „Um keine Zeit zu verlieren, trank ich das Bier auf ex. Der Kinderwagen wackelte anschließend wie bei einem Erdbeben.“ 

Agathe schmunzelte und nahm eine Fackel von der Wand. Sie steckte sie in den großen Laib Gouda, der vor ihnen auf dem Boden lag und setzte sich neben den Verfluchten.

„Warum wurde Olaf böse auf dich? Du nanntest ihn vorhin ‚Halbblut Onkel‘. Hat es damit etwas zu tun?“

„Nachts am Lagerfeuer“, Florians Schultern sackten zusammen, „als er dachte ich schlief, beobachtete ich ihn.“ Er zögerte.

„Und entdecktest sein Geheimnis“, beendete das Mädchen den Satz.

Florian nickte und holte tief Luft. 

„Er trank unseren gesamten Biervorrat leer. Wie ein ausgetrocknetes Kornfeld, auf das nach Wochen der heiß ersehnte Regen prasselte. Mir fiel lautstark die Kinnlade runter. Das bemerkte er. Olaf erklärte mir, dass er selbst einer Art ‘Fluch’ unterlag, da er nur ein Halbblut war. Daher musste er, weil sein Blut nicht für den ganzen Körper reichte, den Rest mit etwas anderem auffüllen.“ 

Agathe strich zaghaft über den Gouda.

„Ich glaubte ihm nicht“, fuhr Florian fort, „Somit gerieten wir in einen hässlichen Streit. Da Olaf das kleine 1×1 des Fluchens beherrschte, zögerte er nicht und belegte mich fuchsteufelswild geworden mit einem.“ 

„Wie können wir den Fluch brechen?“, fragte Agathe und stand auf.

„Erst wenn die Kirchturmglocken drei mal läuten, ist er gebrochen und ich bin frei.“

Agathe stutzte. Es gab keine Glocken im Umkreis. Das hätte sie gehört. Wie gerissen von seinem Onkel.

„Warte kurz hier, Florian!“
„Wo soll ich auch hingehen, du Flöte.“

Agathe verschwand.

Ein paar Minuten später, hallten drei imposante Töne durch das zerbrochene Kellerfenster.

„Das ist mein Zeichen!“ Florian sprang auf. „Ich bin frei!“

Er kletterte an einer erloschenen Fackel hoch, sprang zum Fenstersims und schlug kräftig mit einer Wurst den Rest der kaputten Scheibe aus der Fassung. 

Draußen stand Agathe, reichte ihm die Hand und half ihm ins Freie. Mit glasigen Augen sah er sie an.

„Wir haben uns zwar erst kennengelernt“, und drückte ihre Hand, „aber ich muss meine Chance nutzen. Ich hoffe du verstehst das.“ Zwinkernd fügte er hinzu: „Und pass gut auf dich auf Kleines, seltsame Gestalten treiben im Schloss ihr Unwesen.“ 

Agathe atmete tief ein. „Ich weiß zwar nicht, wohin dich dein Weg führen wird, aber du bist jederzeit herzlich willkommen auf ein Wurstbrot.“ 

Er nickte lächelnd. Dann ging er fort.

Agathe winkte zum Abschied, bevor sie einen großen Topf samt Kochlöffel aus dem Gebüsch zog und zufrieden wieder im Schloss verschwand.