Banner_Der_Märchensammler

Kurzgeschichte
„Der Märchensammler

„Du wirst nie dein eigenes Märchen haben!“ Die Stimme der Märchenhüterin Mechthild donnerte durch den Thronsaal. „Schlag dir das aus dem Kopf, Mirko!“ Sie blickte auf ihn herab und schlug mit der geballten Faust gegen eine der vielen Marmorsäulen. 

Der Kronleuchter über ihnen begann zu wackeln. Wachs tropfte auf Mirkos Schulter, sodass er zusammenzuckte. Gekrümmt wich er zwei Schritte zurück. 

Die Hüterin strich sich derweil süffisant das pompöse Gewand glatt und fischte sich genüsslich ein paar Krümel mit der Zunge aus dem Mundwinkel. 

„Und solltest du es noch einmal wagen wiederzukommen“, drohte sie, „verbrenne ich dein gesamtes Hab und Gut!“ Mechthild zeigte mit einem knochigen Finger auf sein Gepäck. „Nimm mir bitte nicht mein Ein und Alles!“, flehte das kleine hagere Männchen und hielt schützend seine Hände über die Habseligkeiten. 

Hier sei erwähnt, dass es sich nicht um eine kleine Tasche handelte, die es zu beschützen galt. Oh nein, vielmehr war es ein riesiges Sammelsurium aus großen und kleinen Rucksäcken, abgewetzten Beuteln, gar kleinen Schränkchen mit knarrenden Schubladen – auch ein Vogelhäuschen war dabei. 
Mirko trug alles geschickt verschachtelt auf dem Rücken. Einzig und allein gehalten durch seine Willenskraft und natürlich gut verknoteten Seilen.    

Mechthild klatschte einmal kräftig in die Hände. 

Herein stürmten zwei Wachen, die Mirko kurzerhand samt Gepäck unterhakten, sodass seine Beine hilflos in der Luft baumelten. „Hinweg mit ihm, und dass er ja nicht wieder her finde!“ Ertönte noch der Märchenhüterin Stimme, als Mirko schon ein miefiger Sack über den Kopf gestülpt und er ohnmächtig wurde.

Als er langsam wieder zu sich kam, schwindelte es ihm noch. Seine spindeldürren Finger vergruben sich auf der Suche nach Halt im tiefen Moos. Langsam richtete er sich auf. „Ein Männlein steht im Walde“, begann er zittrig zu singen, „ganz still und stumm.“ Er kniff die faltigen Augenlider zusammen und atmete tief ein.

Es roch nach Holz, Rosen und feuchtem Gras. Als sich das Leben den Weg zurück in seine Beine bahnte, stand er behutsam auf und rückte sein ausladendes Gepäck zurecht.

Dabei löste sich der Verschluss des Vogelkäfigs und heraus hüpfte vergnügt der gefiederte Untermieter. Das hübsche Geschöpf sah Mirko erwartungsvoll an. „Oh nein“, stöhnte das Männchen, sein Kopf pochte noch, „bitte nicht singen!“ Doch da hielt das Vögelchen auch schon sein Köpfchen schief und trällerte aus voller Kehle.  

Tränen stiegen Mirko in die Augen. 

„Hallo?“, suchte sich kurz darauf eine liebliche Stimme ihren Weg durch den Wald. „Ist da jemand?“
Bevor das Männchen antworten konnte, flog der Vogel der Stimme nach. Mirko rappelte sich und schlich hinterher. Weit kam er aber  nicht, denn er landete unsanft auf seinen vier Buchstaben.

„Verdammt“, schimpfte er und zog eine einzelne Erbse unter seinem Po hervor. „Ich muss meine Sachen besser verstauen.“ Er putzte den Dreck von dem kleinen Gemüse und steckte es zurück in den Beutel. Als er seinen Weg fortsetzte, entdeckte er viele winzige Fußabdrücke, die den Waldboden in einen Trampelpfad verwandelten.

Als sie verebbten, blickte er in die Augen eines wunderschönen Mädchens, das in der Tür zu einer beschaulichen Waldhütte stand. Der Vogel landete auf ihrem zarten Handrücken. 

„Ist das deiner?“, fragte sie, „Kann ich ihn behalten?“ Mirko war von ihrer Schönheit schier geblendet. „Ach, das alte Ding“, flötete er mit einer abfälligen Handbewegung, „Den kannst du haben.“

Das Mädchen nickte lächelnd und griff in ihre Schürze. „Du schleppst aber eine Menge mit dir herum, mein Lieber. Du musst hungrig sein.“ Sie zog einen glänzenden Apfel hervor.
„Hier, den kannst du haben. Er soll besonders schmecken, wurde mir gesagt.“ Mirko nahm ihn in die Hand. „Das ist sehr nett von dir. Woher hast du ihn?“

„Von einer alten Frau.“ Das Mädchen zwirbelte ihre langen dunkeln Haarspitzen zwischen den Fingern. „Sie bot mir schon öfter etwas an. Dieses Mal habe ich nachgegeben, in der Hoffnung, dass sie nicht wiederkommt.“ 

„Warum willst du ihn nicht selbst essen?“, fragte Mirko.
„Ich bin fructoseintolerant.“
„Und ich eine Nachtigall“, antwortete der Vogel.

„Oh, na gut“, hüstelte Mirko und ließ den Apfel in einem seiner zahlreichen Beutel verschwinden.

Ein Räuspern erklang hinter dem Mädchen. 

Mirko machte einen langen Hals. „Hast du Besuch?“ Er entdeckte einen roten Mantel an der Garderobe. „Ja“, antworte die Schöne, „Eine Freundin.“

Ehe Mirko zur nächsten Frage ansetzen konnte, stand die Besagte auch schon im Türrahmen. 

In der Hand ein geflochtenes Weidenkörbchen. „Wer bist’n du?“, gluckste sie. 

„Auf jeden Fall alt genug um Wein zu trinken“, antwortete Mirko und zog die Augenbrauen hoch. Die Kleine grinste und gab ihm die Flasche aus dem Korb: „Aber pssst, sag´s nicht der Oma.“

Mirko nickte grinsend und sah die beiden Mädchen dann fragend an. „Habt ihr vielleicht eine Idee, wie ich die Märchenhüterin für mich gewinnen kann?“

„Mechthild?“, entfuhr es den beiden entgeistert. „Da ist es einfacher Rapunzel eine Perücke zu verkaufen.“

„Aber jeder wird für etwas schwach. Sie nicht?“, wollte Mirko wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Mädchen mit dem Weidenkörbchen dachte einen Moment nach und schnippte dann mit den Fingern: „Ich hab´s! Meine Oma und Mechthild tauschen neuerdings Backrezepte aus.“

„Perfekt!“ Mirko klatschte sich auf den Oberschenkel, „Sie hat also eine Schwäche für Süßes.“ 

Plötzlich krachte es neben der Hütte. „Scheiße!“, fluchte eine tiefe Stimme, „Wer lässt denn hier kleine Betten rumstehen?“

„Entschuldigung!“, entgegnete das Mädchen, „Ich habe mich erst kürzlich von meinen Mitbewohnern getrennt. Und die Märchen-Müllabfuhr war noch nicht da.“

„Verstehe“, raunte die fremde Stimme, „Und wenn sie nicht gestorben sind, verspäten sie sich bis heute.“

Um die Ecke trat ein grauer ausgewachsener Wolf, der sich wie ein Bär am Baum seinen Rücken an der rauen Hüttenwand schupperte.

„Was verschlägt dich denn hierher?“, fragte Mirko etwas nervös. 
„Ich habe mir vorgestern einen Flohzirkus angesehen“, antwortete er, „Seitdem habe ich ungebetene Gäste und mache an jeder Ecke halt, um mich zu kratzen.“ 

Mirko begann in einem seiner Schubladenschränkchen zu wühlen. „Ich hab‘ da etwas für dich.“
Er zog ein Flohhalsband heraus. „Das habe ich aus Bremen mitgebracht. Ein Hund hatte es verloren, als er auf den Rücken eines Esels sprang.“

„Sachen gibt´s!“ Die Mädchen sahen sich lachend an. 

Der Wolf zögerte noch einen Moment mit dem Halsband in den Pranken, dann legte er es an. „Ach hilft ja nichts, der eine oder ander Floh sitzt mir ja schon im Ohr. Das ist sehr nett von dir. Kann ich mich revanchieren?“, er haute sich auf die Plauze, „Da mein potenzielles 7-Gänge-Menü ausgezogen ist, hätte ich Zeit euch Dreien behilflich zu sein. Habt ihr etwas Schönes vor?“ 

Das eine Mädchen nahm sich ihren roten Mantel von der Garderobe: „Klar, wir sind im Märchenwald, da gibt es immer ein Abenteuer zu bestehen.“ Die andere nickte zustimmend und schloss die Hütte hinter sich. „Du kannst uns Geleitschutz geben. Wir müssen zu meiner Oma, backen.“

„Das ist ja ein Zufall“, flüsterte der Graue, „In die Richtung wollte ich eh.“

Die Dämmerung brach herein wie ein Räuber über seine Beute und erschwerte ihnen den Weg durch den Wald. Sie begegneten einem Jungen der behauptete, von Wölfen aufgezogen zu sein, sahen ein paar Geißlein, die sich panisch vom Acker machten, und bewältigten das letzte Stück mit einem Mädchen, das auf einem Bein hüpfte, denn – sie trug nur einen Schuh und beklagte den Verlust des anderen auf einer ganz fantastischen Party.  

Mirko räusperte sich leise und drückte einen wunderschön glänzenden Schuh tiefer in den Rucksack.

Als sie bei der Großmutter ankamen, freute sie sich zwar, beim Backen helfen zu können, aber sie sah sich vorher den Wolf genauer an. Nicht aus Angst verspeist zu werden, eher aus Sorge, dass er ihr beschauliches Heim vollhaaren könne. Ehe sie sich versahen, hatte sie daher Schonbezüge aus der Kommode gekramt und warf diese über Bett und Sofa.

Dann holte sie ihr großes Rezeptbuch hervor. „Was habt ihr denn für Zutaten?“, fragte sie in die Runde. Mirko hielt den Apfel und die Flasche Wein in die Luft. „Überschaubar, aber machbar“, entgegnete die alte Frau amüsiert, „Mechthild liebt ‘Apfel-Wein-Torte’ über alles. Ich habe auch noch ein paar Zutaten im Schrank, damit sollten wir sie backen können.“

Während der Wolf sich ausmalte, welche der tatkräftigen Leckereien er als erstes verspeisen würde, wurde das Backwerk im Handumdrehen vollendet. Mirko verstaute die Torte vorsichtig in einem seiner Schränkchen. „Und wie komme ich zurück zum Schloss?“, fragte er stirnrunzelnd, „Das war die letzten Male mehr Glück als Verstand.“ 

Er sah in lange Gesichter.

„Na gut“, seufzte der Wolf, wischte sich den Sabber aus der Schnauze und wandte den Blick von der Großmutter ab. Selbstbewusst ging er auf den Kleiderschrank zu. „Ich muss dich enttäuschen“, merkte die alte Dame an, „Meine Nachthemden werden dir nicht passen.“ 

Alle lachten. 

Der Wolf aber ließ seine Zähne blitzen, öffnete unbeirrt die Schranktür und schob die säuberlich gefaltete Kleidung beiseite. Dreimal klopfte er gegen die Rückwand. Ein Guckloch sprang auf. „Wie lautet der Zaubersatz?“, quäkte eine Stimme hindurch. „Ding, Dong, die Hex ist tot!“, sang der Wolf. 

Ein Summer ertönte und die Rückwand des Schrankes öffnete sich wie Flügeltüren.

Der Wolf klatschte in die Pranken: „Darf ich bitten?“ Die Zuschauer kamen aus dem Staunen nicht mehr raus. „Und dadurch komme ich zum Schloss?“ Mirko trat skeptisch einen Schritt in den Schrank.
„Ja, es ist der direkte Weg“, versicherte der Wolf und tätschelte unbeholfen Mirko auf den Hinterkopf.

„Dann bleibt mir nur noch ‘Lebewohl’ zu sagen“, verabschiedete sich dieser, winkte herzlich und nahm nicht nur sein Gepäck sondern auch seinen Mut zusammen, bevor er selbst gänzlich im Schrank und durch das Portal verschwand.

Unversehens fand sich Mirko im Thronsaal der Märchenhüterin wieder, doch dieser sah anders aus: Riesige rot-weiße Zuckerstangen standen neben den Fenstern. Die Fliesen im Schachbrettmuster auf dem Boden waren nun zur Hälfte aus Zitronenkuchen. Auf dem Weg zum Thron musste Mirko aufpassen, nicht bei jedem zweiten Schritt im buttrigen Teig zu versinken. 

Der Thron selbst war mit einem riesigen Ofenhandschuh überzogen.

Mechthild flog auf einem Schneebesen an Mirko vorbei. „Was machst du denn wieder hier?“, rief sie entgeistert, „Hatte ich mich nicht klar ausgedrückt?“ Sie bewarf ihn mit kandierten Äpfeln.

„Hör auf!“, flehte Mirko, „die verkleben alles.“

„Ich hatte dich gewarnt, kleiner Mann.“ 

„Ich komme nicht mit leeren Händen!“ Zittrig holte Mirko die Apfel-Wein-Torte hervor.
„Sie ist für dich.“

Mechthild bremste abrupt ihr Backutensil und ließ sich zum Männchen herab. Sie schürzte die Lippen und roch an der Torte. Tränen stiegen ihr von dem betörenden Duft in die Augen. Nervös klopfte sie sich auf den Hinterkopf.

Dabei brach ihr ein Zacken aus der Krone.

„Ich schlage dir einen Deal vor.“ Mechthild kniff die Augen wie runzelige Rosinen zusammen,
„Du erzählst niemandem von meiner Back-Obsession und im Gegenzug darfst du dir dein eigenes Märchen ausdenken.“

Mirko sackte vor Erleichterung das Gebäck in die Knie. 

Er nickte. 

„Erfinden muss ich es aber nicht erst“, fügte er hinzu und legte stolz die Hand auf sein Sammelsurium an Habseligkeiten, „Ich lebe schon lange mein eigenes Märchen.“

„Und wie soll es heißen?“, fragte Mechthild, bevor sie herzhaft in die Torte biss.

Mirko musste nicht lange überlegen: 

„Der Märchensammler“