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Kurzgeschichte
„Die Luft ist raus

Kalte Luft wehte durch die Praxis und fegte ein Foto vom Schreibtisch. Dr. Schneider sprang vom Sessel auf und stellte es sorgsam an seinen ordnungsgemäßen Platz. Das Foto zeigte ein kleines Mädchen, das breit grinsend rote Ballons in die Kamera hielt.

Bei dem Anblick wurde der Patientin warm ums Herz. „Ist das Ihre Tochter?“, fragte sie und setzte sich. „Ja!“, antwortete Dr. Schneider lächelnd, „Die Aufnahme habe ich vor genau einem Jahr gemacht. Es war ihr sechster Geburtstag.“

„Die Kleine hat offensichtlich eine Vorliebe für die leichten Dinge“, bemerkte die Patientin nachdenklich.

„Sie liebt Luftballons. Aber wie sieht es denn mit Ihrer Leichtigkeit aus?“, fragte der Arzt und zückte einen Kugelschreiber. Er klappte den Notizblock auf und blickte über den Rand seiner halbmondförmigen Brillengläser. Er hatte schon viele Patienten gehabt, aber bei dieser Erstsitzung wusste er selbst noch nicht, wohin der Wind sie wehen würde.

„Herr Doktor“, entgegnete die Patientin, „wie sage ich es am besten. Die Leichtigkeit, sie ist mir abhandengekommen, auch wenn man es mir nicht ansehen mag. Immer wenn ich meinen Mut zusammennahm, um in das Innerste eines Menschen vorzudringen, wurde ich auch schon wieder weggestoßen. Nie hatte ich die Chance lang genug zu bleiben, um den Menschen wirklich kennenzulernen, ihn zu spüren.“

„Was genau reizt Sie daran?“, fragte er weiter und schob die Brille zurück auf seine kartoffel förmige Nase.
„Na, einfach alles! Ob es ein nervöser Mensch ist, der hastig seine Luft verbraucht, oder jemand, der pfeifend durchs Leben geht. Oder“, sie begann zu schmunzeln, „jemand, der lieber ein Kaugummi essen sollte.“

Dr. Schneider unterdrückte ein Lachen. „Schauen Sie nur, welchen Vorteil sie haben“, erklärte er, „Sie können so vielen unterschiedlichen Menschen begegnen. Da haben Sie den meisten etwas voraus. Zugegeben“, räumte er ein, „auch wenn es nie von Dauer ist.“

„Ja, aber ich möchte so gern auch mal bei jemanden richtig ankommen, zu ihm gehören.“ Die Stimme der Patientin klang aufgelöst. Dr. Schneider nickte mitfühlend, das Dilemma vor Augen: „Es fällt Ihnen nicht leicht, in Ihrem Zustand eine dauerhafte Beziehung einzugehen.“ Die Patientin begann sich nervös hin und her zu bewegen: „Aber streng genommen, würde mein Gegenüber ohne meine Besuche auf Dauer nicht leben können!“

Jetzt schwirrte sie haltlos durch den Raum: „Alle behandeln mich wie Luft.“
„Na, weil Sie es sind!“, antwortete der Arzt verzweifelt und klappte unbeabsichtigt laut den Notizblock zu.

Das war zu viel für die Patientin. Sie strömte wütend umher. „Ich wurde früher als ‚Laues Lüftchen‘ oder ‚Verbrauchte Luft‘ gehänselt. Das tut weh! Das hinterlässt Spuren, verstehen Sie?“

„Beruhigen Sie sich bitte“, versuchte Dr. Schneider mit sanfter Stimme neu anzusetzen. Er kratzte sich an seiner hohen Stirn, sodass die mühevoll über den Kopf gekämmten Strähnen nach vorne fielen. „Ich verstehe ja Ihre Situation“, sagte er ruhig und klemmte den Kugelschreiber an die Brusttasche seines Hemdes. „Aber wir Zwei können das Rad nicht komplett neu erfinden.“ Nachdenklich zog er eine Augenbraue hoch, „Aber wir können es etwas aufpumpen.“ 

Der Arzt stand energisch auf: „Ich habe eine Idee. Haben Sie Lust auf ein Abenteuer?“

Hoffnungsvoll schwirrte ihm seine Patientin um den Kopf. Dabei nahmen seine Strähnen wieder ihren ursprünglichen Platz ein. Der Arzt lachte: „Ich nehme stark an, das soll ‘Ja’ heißen.“

„Aber nur, wenn es die Krankenkasse bezahlt“, lachte die Patientin so herzhaft über ihren eigenen Witz, dass die Gardinen am Fenster zu flattern begannen und kleine Staubkörnchen, die feierlich von der Mittagssonne angestrahlt wurden, funkelnd zu Dr. Schneider tänzelten.

Er musste niesen und katapultierte somit seine Patientin gegen die Wand. „Vorsicht, Herr Doktor“, gluckste sie, „sonst herrscht hier gleich dicke Luft.“

Beide setzten sich amüsiert in ihre Sessel zurück und Dr. Schneider begann zu erklären: „Ein paar Straßen weiter von hier gibt es ein Schwimmbad.“

Die Luft unterbrach ihn pikiert: „Bedaure, ich habe meine Schwimmflügel heute nicht dabei.“
Der Arzt schüttelte den Kopf: „Nein, so meine ich das nicht. Dort gibt es eine Tauchschule. Die könnte für Sie interessant sein.“  

Die Luft hielt inne: „Aber, ich kann doch nur mit einem Menschen zusammen untergehen.“

„Das ist der Plan!“, lächelte der Arzt. Die Luft war verunsichert. „Ja, aber die tauchen mit Flaschen auf dem Rücken. Da bekomme ich bestimmt Platzangst in so einem kalten starren Raum.“

Dr. Schneider strich sich über den Kopf: „Dort trainieren Profis das Apnoetauchen. Das heißt, die Taucher sind mehrere Minuten mit ihrer vorher selbst eingeatmeten Luft unter Wasser. Ohne Flaschen. Somit hätten Sie die Chance, dem Menschen etwas länger nah zu sein.“ Er schürze die Lippen: „Wie hört sich das für Sie an?“

„Herr Dr. Schneider?“, antwortete seine Patientin, „Es liegt was in der Luft. Nämlich eine Menge Frieden.“

Beide lachten.

Dann stockte sie: „Aber wie komme ich da hin? Ich bin vor Freude ganz aufgelöst; ich habe Angst mich unterwegs zu verlieren.“

„Ich kann Sie beruhigen, meine Liebe“, antwortete er, „Da meine Tochter, wie sie wissen, ein Faible für Leichtigkeit hat, habe ich für heute Nachmittag wieder Luftballons besorgt. Ich kann Sie in einem mitnehmen. Sehen Sie es als Taxi.“

„Aber dann bitte einen transparenten“, antwortete die Luft, „Ich möchte unterwegs rausgucken.“