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Kurzgeschichte
„Ein Stück vom Himmel

Maja stand im Garten und schaute verträumt nach oben. Irgendetwas war heute anders als sonst. Aber sie konnte beim besten Willen noch nicht sagen was.

Etwas Zartes berührte ihre Hand und riss sie aus den Gedanken. Sie sah hinab. „Eine Wolke?“ murmelte das Mädchen durch die schmalen Lippen. Sie nahm das Fundstück in die Hände und begutachtete es von allen Seiten. Ein wohlig warmes Gefühl durchströmte ihren Körper.

Als Maja wieder hoch sah, stand ihre Mutter mit tippelndem Fuß vor ihr. „Was hast du da?“, fragte sie harsch. Noch ehe ihre Tochter antworten konnte, fuhr sie fort: „Sieht aus wie Zuckerwatte. Schmeiß sie weg! Wer weiß, wo sie schon überall war.“ 

„Aber sie ist so schön weich, Mama“, entgegnete die Kleine und wandte sich von ihrer Mutter ab, „Und sie riecht nach Opa.“
Ihre Mutter zuckte zusammen und drehte ihre Tochter zu sich. „Maja, was redest du denn da!“, sagte sie mit glasigem Blick, „Das ist doch Unsinn, schmeiß sie weg!“
Das Mädchen senkte den Kopf und öffnete widerwillig die Hand. Der Wind kroch unter die Watte und trug sie den Gartenweg entlang.

Als Majas Mutter im Haus verschwand, rannte die Kleine ihrem Schatz nach.

Sie fand die Watte schließlich eingeklemmt im Gartenzaun. Das Mädchen zog sie langsam heraus und pustete behutsam den Dreck ab. „Du bist genauso Weiß wie die Wolken“, flüsterte das Mädchen und drückte ihren Schatz fest ans Herz. 

Maja spürte, wie sich dabei die Watte in kleine Wölkchen löste. Spielerisch begannen sie, um das Mädchen herum zu tänzeln. Maja griff erst zaghaft, dann lachend nach den Stücken, als ihr klar wurde, wie die Watte mit ihr Fangen spielte.

Eine Handvoll hatte sie schon, als der Rest vergnügt weiter über ihren Kopf hinweg wirbelte. Maja sprang mehrfach in die Luft, bis sie alle Wölkchen wieder beisammen hatte.
Doch eines ließ sich beim besten Willen nicht fangen. Es nahm zielsicher Landeanflug auf den kleinen Teich. Ihre Wattesammlung behutsam unterm Arm, schlich Maja hinterher und schob den gräsernen Vorhang beiseite. Sie sah zum Wasser.

„Hey, du Lurch!“, bölkte ein Gartenzwerg vom Rand des Ufers und sah sie zornig an, „Was glotzt du so?“

Die Seerosen klappten vor Schreck zusammen.

Maja ging zum schimpfenden Gartenbewohner. „Und du mach hier keinen Zwergenaufstand!“, rief sie ihm zu, „Hast du deine guten Manieren im Garten vergraben?“

„Sachte, sachte, junges Fräulein!“, säuselte er, „Einer muss hier schließlich für Recht und Ordnung sorgen.“ Maja sah an ihm herab: „Und das tust du mit einem weißen Röckchen um die Hüfte?“ Der Zwerg riss die Augen auf: „Was meinst du?“, und tastete seinen Körper ab, „Wer hat mir denn den angezogen?“
Die Kleine grinste. „Lach nicht!“, zischte der Zwerg und stampfte mit dem Fuß, „Ich bin ein Bandit. Die tragen Hosen!“

Maja nahm den Griesgram weiter unter die Lupe. „Dir fehlt ein Arm“, stellte sie trocken fest. 

„Den hat die Katze verbuddelt“, stotterte der Zwerg, „Aber die gute Nachricht ist, ich habe einen zweiten“, und wackelte mit dem anderen. „Zieh dran!“
Maja ließ sich nicht zweimal bitten und kam seiner Aufforderung nach.

Kaum ließ sie den Arm wieder los, begannen die Augen des Zwergs sich wie wild um ihre eigene Achse zu drehen. Maja wurde ganz schwindelig bei dem Anblick. Doch dann stoppten sie abrupt. Erwartungsvoll sah Maja in sein Gesicht. „Da kommt etwas Großes auf uns zu!“, sagte der Zwerg mit gequälter Stimme und drehte Maja seinen Hintern zu. 

Er furzte das Röckchen weg.
Das war endgültig zu viel für die Seerosen. Sie gingen unter.

Das Ergebnis der Verdauungsachterbahn war eine geruchsintensive Wolke und zwei schwarze Knöpfe.

„Die kannst du behalten!“, sagte der Zwerg mit der Hand wedelnd, „Die saßen mir eh schon viel zu lange quer.“ Er verabschiede sich mit einer Arschbombe in den Gartenteich. Damit schoss er die letzte Seerose ins Jenseits. 

Maja hob die Knöpfe mit spitzen Fingern auf, wusch sie gründlich ab und steckte sie in ihre Hemdtasche. Die Spiegelungen auf der Wasseroberfläche verrieten ihr, dass die Sonne langsam Feierabend machte und zum Abschied den Garten in ein intensives Rot tauchte. Als sie wieder aufstand, flog das flügge gewordene Stück Watte zaghaft an ihrem Ohr vorbei Richtung Schuppen. Maja sah hinterher und entdeckte, dass die Tür einen Spalt offen stand. 

Die Watte flog hinein. 

Maja war zuvor noch nie im Schuppen. Ihre Mutter verbot es aus Angst, die Kleine könnte sich an den alten rostigen Gartengeräten verletzen. Doch das Mädchen ignorierte jetzt das Verbot. Ihre Neugierde war zu groß. 

Ihren Wolkenschatz sachte an sich gedrückt ging sie durch den Spalt hinein.

Es roch nach alten Zeitungen und feuchtem Holz. Das restliche Tageslicht suchte sich seinen Weg durch die krummen Wandbretter. Mit jedem weiteren Schritt, den das Mädchen hinein wagte, jagten sich mehr Staubkörner durch die Luft. Maja musste niesen.

Ein Besen kippte und erwischte sie am Hinterkopf. Gerade als sie instinktiv Luft holte um zu weinen, fasste sie sich an die Haare und spürte etwas Weiches. 

Die Watte hatte den Schlag abgefangen. Doch noch bevor Maja sie festhalten konnte, entwich sie auch schon wieder und verschwand in einer dunklen Ecke.

Majas Gesicht glühte jetzt vor Aufregung. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte sie in der Ecke, hinter einem alten Radio, braunes Fell. „Mietz, mietz, komm her!“, rief die Kleine und hockte sich hin, „Du brauchst keine Angst haben.“  

Nichts geschah. 

Auf Zehenspitzen tippelte Maja hin und griff behutsam nach dem Fell. Doch statt einer Katze, hatte sie einen Teddy in der Hand. Oder eher gesagt das, was von ihm noch übrig war. Das komplette Innenfutter fehlte. Zwei Fäden oberhalb der Nase ließen vermuten, dass dort einst die Augen saßen.

„Das ist meiner“, hörte Maja die müde Stimme ihrer Mutter hinter sich. Sie ließ ihren Watteschatz hinter dem Rücken verschwinden, als sie sich umdrehte und in die traurigen Augen ihrer Mutter sah. „Den schenkte mir dein Opa, als ich so alt war wie du“, erklärte sie und strich ihr übers Haar.

„Warum ist er kaputt?“, fragte Maja. Ihre Mutter kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals: „Ich konnte mich damals nicht von Opa verabschieden. Das machte mich wütend. Da habe ich den Teddy zerrissen und ihn in den Schuppen geworfen.“ Sie strich ihrer Tochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Es tut mir leid, meine Kleine, mit dem kannst du nicht mehr spielen.“

Dann lächelte ihre Mutter aufmunternd: „Komm bitte auch gleich rein, ja? Dann mache ich dir ausnahmsweise noch eine heiße Schokolade vorm Schlafengehen.“ Maja nickte zögernd.
Ihre Mutter ging zurück ins Haus.

Das Mädchen kauerte sich mit dem kaputten Teddy und ihrer Wolke zusammen in die Ecke und zog schniefend die Knie ran. Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen und tropften in die Hemdtasche.

In dieser raschelte es plötzlich. Das Mädchen griff hinein und hielt die schwarzen Knöpfe in der Hand. Sie spürte, wie sich die beiden leicht hin und her wiegten, ganz von selbst. Mit zittrigen Fingern legte Maja die Knöpfe auf die Fäden am Kopf des Kuscheltiers. Sie verknoteten sich um die Knöpfe. Maja fiel die Kinnlade runter.

„Du kannst wieder sehen!“, flüsterte sie und wischte sich eine Träne von der Wange. Sie hob schließlich den Teddy hoch und sah ein Loch im Bauch. Der Mut verließ sie wieder und die Sonne stand inzwischen so tief, dass die letzten Strahlen ins Innere des Schuppens fielen. Für Maja das unmissverständliche Zeichen, gleich ins Bett zu müssen. 

Gerade als sie aufstehen wollte, schwebte ihr das letzte Stückchen Watte aus der Ecke entgegen und legte sich in ihre ausgestreckte Hand. Ein süßlicher Geruch von Vanille lag in der Luft. „Opas Pfeife“, sagte sie aufgeregt zum Teddy.
Maja hielt das Stück Watte an ihre bereits gesammelte. Sie verbanden sich und Maja spürte ein Kribbeln. Geistesgegenwärtig stopfte sie die Watte durch das Loch am Bauch des Teddys. 

Sie füllte ihn komplett aus. Und die offenen Nähte verschlossen sich wie von selbst.  

„Du bist wieder da!“, sagte das Mädchen. Die Knopfaugen glänzten und das Fell schimmerte wie neu. „Ich gebe dich nie mehr her“, hauchte Maja in sein Ohr und drückte ihn so fest sie konnte.