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Kurzgeschichte
„Mehr als ein Elf“

Die Erzieherin schaute Ende November im Schuppen des Kindergartens nach, ob alle Kleinigkeiten für den Adventskalender rechtzeitig hinterlegt wurden. 

Die Eltern hatten außerhalb der Öffnungszeiten ihre Geschenke dort deponiert, damit die Kleinen aus der Marienkäfergruppe es nicht mitbekamen. Denn für sie war die Überraschung gedacht.
Für jedes Kind ein Türchen. 

Die Erzieherin trug die Tüten und Körbe der Eltern ins Haus und kippte die Inhalte behutsam auf den großen Tisch im Gruppenraum. 

Manche Geschenke waren bunt, ein paar in schickes Papier eingewickelt und andere wiederum dufteten nach Lebkuchengewürz.
Die Erzieherin sortierte die liebevoll verpackten Überraschungen.
Zu guter Letzt zählte sie durch, ob auch alle Zahlen von 1 bis 24 vorhanden waren.

Sie erschrak, es fehlte die 16…

Draußen hinter dem Haus huschte die Kindergarten Maus Hildegard über den Spielplatz. Mit zu ihren Aufgaben gehörte, sich stets um Recht und Ordnung auf dem Gelände zu kümmern.
Und sie hatte den Schlüssel zum Süßigkeitenschrank. Daher war jeder stets bemüht, es sich mit dieser Maus nicht zu verscherzen.

Sie krabbelte auf den Rand des Sandkastens und ließ ihren Blick prüfend über den Rasen schweifen. 

Gerade als sie ihre kleinen Beinchen wieder in die Hand nahm, um ins Warme zu huschen, hörte sie ein lautes Jammern. Es kam vom Rand des Rasens. Die Maus sah nach und staunte nicht schlecht. Vor ihr saß ein weihnachtliches Häufchen Elend. 

Genauer gesagt, ein Männchen mit rot-grün gestreifter Strumpfhose, rotem Pulli und grüner Bommelmütze. Diese hatte er aus Scham über das gesamte Gesicht gezogen.
„Ich habe mich verlaufen!“, jammerte das kleine Wesen, „Dabei hatte ich nur eine einzige Aufgabe, und die habe ich gründlich vermasselt!“ 

„Wer bist du?“, fragte Hildegard neugierig, „Ein Weihnachts-Elf?“
„Nein, ich bin Zwölf!“, entgegnete das Wesen ungehalten und zog dabei die Mütze etwas hoch,
so dass eine niedliche Schnute zum Vorschein kam.
„Dafür, dass du Zwölf bist, bist du aber klein!“, wunderte sich Hildegard.
„Nein, ich bin Zacharias, ein Weihnachts-Zwölf!“, grummelte er, setzte die Mütze ab und erklärte:
„Die Elfen sind dafür zuständig, die Geschenke herzustellen. Und die Zwölfen, wie ich einer bin, sind die persönlichen Sekretäre des Weihnachtsmannes. Wir bearbeiten die Fanpost und verteilen Autogrammkarten.“ 

Hildegard wägte die Wahrscheinlichkeit ab, ob Zacharias nicht eher kürzlich auf den Kopf gefallen war. Während sie über diese Vorstellung schmunzeln musste, fiel ihr auf, dass er einen Rucksack trug. Auf ihm war eine blinkende 16 befestigt.

„Was ist in dem Rucksack?“, fragte sie.
„Da ist eine Autogrammkarte vom Weihnachtsmann drin. Die muss ich dringend in den Schuppen bringen!“

„Der ist auf der anderen Seite des Grundstückes“, erklärte Hildegard, „Ich kann deinen Rucksack hinbringen, wenn du möchtest.“
Zacharias lächelte, stand auf und klopfte sich den Dreck von der Strumpfhose. „Das ist lieb gemeint, aber ich musste dem Weihnachtsmann hoch und heilig versprechen, dass ich die Karte höchstpersönlich hinterlege.“ Der Zwölf kratzte sich am Hinterkopf. „Aber magst du mich vielleicht begleiten? Die Frau des Weihnachtsmannes hat meine Strumpfhose zu heiß gewaschen. Mir fällt jeder Schritt schwer.“ Hildegard schaute auf seine Beine. Der Anblick erinnerte sie an ‘Wurst in Pelle’.

Sie pfiff einmal kräftig über den Rasen und im Handumdrehen kam Suse, ihre Assistents Maus, angeflitzt. Hildegard schilderte kurz ihr Vorhaben und gemeinsam fanden sie eine Lösung:

Die Mäuse zogen an einem Seil, das hinter dem Sandkasten hervor lugte. Es rollte ein Dreirad um die Ecke. „Bitte einsteigen, der Herr!“, forderte Suse auf und zwinkerte Zacharias kichernd zu. Dieser traute seinen Augen nicht: „Wie soll das klappen? Meine Beine reichen nicht bis zu den Pedalen runter!“
„Lass das mal unsere Sorge sein!“, entgegnete Hildegard und half dem Zwölf mit Räuberleiter auf den Sitz. „Es geht los, Herr Zwölf!“ flötete Suse und sprang abwechselnd mit Hildegard auf die Pedale. 

Das Dreirad setzte sich in Bewegung. 

Eines hatten die Mäuse allerdings nicht bedacht: Zacharias’ Arme reichten auch nicht ans Lenkrad.
Hinzu kam, dass Hildegard zuvor ein großes Stück Käsekuchen gegessen hatte, was die Fahrsituation nun deutlich in Schieflage brachte. 

Sie kriegten die Kurve nicht.

Es quietschte und polterte.
Das Dreirad kippte um und begrub die drei unter einer großen Staubwolke.

„Alle noch am Leben?“, rief Suse. Die beiden anderen sahen an sich herab und antworteten knapp: „Ja, alles noch dran!“ Sie richteten das Dreirad wieder auf. Gerade als sie weiterfahren wollten, leckte eine riesige Zunge über die drei hinweg. Die Truppe erschrak und kreischte wie am Spieß.

„Moin, moin. Bleibt entspannt Leute!“, sagte der große Mund der zur Zunge gehörte. „Ich bin das Rentier Renate! Und bevor ihr fragt, ja, Rudolph ist mein Bruder!“, stellte sich die imposante Erscheinung den Mäusen vor.

Zacharias schaute sie entgeistert an: „Was machst du hier? Du bist einen Monat zu früh!“
„Ja, das ist ja das Problem! Ich habe mich im Kalender geirrt. Hatte mich schon gewundert, dass der Schlitten dieses Jahr so leicht zu ziehen ist. Bestimmt ist das Sonder-Weihnachts-Kommando schon unterwegs, um mich zu suchen. Meinen Job beim Weihnachtsmann bin ich auf jeden Fall los!“

Zacharias dachte laut nach: „Laut WeGeBu, dem Weihnachtsmann-Gesetzbuch, reicht eine gute Tat aus, damit er dich wieder einstellt!“

Renate machte große Augen und tippelte nervös mit ihren viel zu dünnen Beinchen auf und ab.

„Brauchst du denn zufällig Hilfe, kleiner Zwölf?“, fragte sie zuckersüß säuselnd und schaute auf seinen Rucksack mit der blinkenden 16.
„Ja, du könntest mich zum Schuppen bringen! Mir läuft die Zeit davon.“

Hildegard und Suse spitzten plötzlich die Ohren. Die Kirchenglocke schlug acht mal. „Ihr kommt den Rest des Weges alleine klar?“, fragte Hildegard, „Suse und ich schauen immer gerne zusammen den Tatort.“
Zacharias und Renate nickten und die zwei Mäuse verabschiedeten sich herzlich. 

Das Rentier beugte sich runter. Der Weihnachts-Zwölf krabbelte an seiner neuen Mitfahrgelegenheit  hoch und hielt sich mit beiden Fäustchen am Fell fest.

Sie galoppierten schnurstracks zum Schuppen.
Renate ruckelte an der Klinke.
Verschlossen.

„Oha“, entfuhr es ihr, „was machen wir denn jetzt?“
Zacharias grinste und zog eine Haarnadel aus seinem Rucksack.
„Den Trick habe ich mir beim Weihnachtsmann abgeguckt“, sagte er und rutschte auf Renates Hals nach vorn, so dass er an das Türschloss kam.
Gekonnt führte er die Nadel hinein und und bewegte sie vor und zurück, hin und her.

Das Schloss schnappte auf. 

„Da brat mir doch einer einen Storch!“, freute sich das Rentier, während der Zwölf sich auf die Schulter klopfte.
Anschließend deponierte er den Rucksack im Schuppen und krabbelte geschwind zurück auf Renates Rücken.

„Bringst du uns nach Hause, meine Freundin?“, fragte er sanft.
Das Rentier nahm Anlauf und sang: „Am Nordpol sagt man ‘Tschüß‘“ und flog mit ihm im hohen Bogen zurück nach Hause. 

Am nächsten Morgen ging die Erzieherin erneut zum Schuppen. „Oh“, bemerkte sie, „ich habe wohl gestern nicht abgeschlossen.“ Sie trat ein und sah Zacharias’ Rucksack in der Ecke liegen.
„Gott sei Dank“, sagte sie erleichtert, „da ist ja die 16.“